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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Opéra Garnier, Paris
1. September 2010, 20.00 Uhr
    M ichael schloss die Augen und sog das Mandarinenaroma in sich auf. Jeder wusste, dass er ohne die säuerliche Frische seines Parfüms in der Nase nicht dirigieren konnte. Einige der Orchestermitglieder wollten ihm gerne nacheifern und diskutierten nach den Proben darüber, ob es sich wohl um diese oder jene Marke handelte. Er betrachtete sich im Garderobenspiegel. Der Duft passte nicht zu seiner vornehmen Erscheinung. Er ließ den Blick über die Falten in seinem Gesicht und das nach hinten gekämmte Haar wandern, als würde er einen Fremden verstohlen mustern. Die Fliege sitzt schief, dachte er. Sorgfältig rückte er sie zurecht und achtete dabei darauf, keine Spuren auf dem makellosen Weiß zu hinterlassen. Der Frack – perfekt. Er sah nach unten. Die Schuhe – perfekt.
    Es klopfte an der Tür. Es war Fabien Rocher, der Direktor des Opernhauses.
    »Bitte, komm doch rein.«
    »Wie sieht es aus?«
    »Ich habe Lust, endlich loszulegen.«
    »Mein lieber Freund …«
    Fabien trat näher und umarmte ihn. Dann ließ er sich in den Ledersessel sinken und betrachtete stolz sein Gegenüber.
    »Jetzt lass doch das sentimentale Getue«, meinte Michael. »Wir sind schließlich nur zwei alte Knacker.«
    »Und damit in genau dem richtigen Alter für solche Gefühlsduseleien. All die Erinnerungen …« Sie lächelten sich an. »Wann warst du noch gleich das erste Mal hier?«
    »Als Dirigent?«
    »Ich glaube, damals stand irgendwas von Wagner auf dem Programm …«
    » Lohengrin , am 17. März 1976.«
    »Stimmt. Rachel war …«
    Fabien verstummte.
    »Sie war so wunderschön. Wie ein Engel thronte sie dort oben in ihrer Loge.«
    »Sie war eine tolle Frau.«
    Einen Augenblick lang schwiegen beide. Michael warf seinem Freund einen raschen Blick zu.
    »Fabien …«
    »Ich lasse dich ja schon in Ruhe. Dann kümmere ich mich mal lieber um den Kultusminister, der ist heute Abend völlig aufgelöst. Auf der Treppe vor dem Haupteingang wimmelt es nur so von Promis und Presse«, rief er, bevor er die Garderobe verließ. »Viel Glück, Michael! Und ich bitte doch sehr um deinen Gänsehaut-Effekt!«
    Während Fabien die Tür hinter sich zuzog, war von draußen kurz das immer lauter werdende Gemurmel aus dem Zuschauerraum zu vernehmen. Dort drehten sich die Musikbegeisterten auf fast zweitausend Stühlen mit rotem Samtpolster zu den politischen Führungskräften aus aller Welt um, die unter Einhaltung eines akribischen Protokolls im Gänsemarsch auf die Sitze in den ersten Reihen zuhielten. In den letzten Tagen hatte in Paris ein äußerst produktives Gipfeltreffen stattgefunden, bei dem man sich auf die Unterzeichnung einer Reihe von Umweltschutzabkommen einigen konnte, die bislang stets wie bloße Utopien gewirkt hatten. Dieses historische Ereignis wollte jener malerische Kreis von Machthabern nun Seite an Seite in dem prunkvollen Bau begehen.
    »Es mögen ja nur zwei Stunden sein, aber zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit werden hier alle vereint sein, verbunden durch die Musik«, hatte Fabien Rocher den Medien erklärt.
    Es handelte sich auch nicht nur um irgendein Konzert des großen Komponisten und virtuosen Geigers Michael Steiner, der darüber hinaus als einer der besten Dirigenten galt. Nein, dies war sein letzter Auftritt. Und daher spiegelte sich in den Blicken seiner Bewunderer nicht nur die Freude darüber, eine Eintrittskarte ergattert zu haben, sondern auch das Bedauern über sein Abdanken. Wenigstens trösteten sie sich mit dem Gedanken daran, dass Steiner auf einer Pressekonferenz angekündigt hatte, er werde gegen Ende des Programms auf der Geige eine kurze Eigenkomposition vortragen, die er seit ihrer Entstehung vor Jahren noch nie vor Publikum zum Besten gegeben hatte. Dies war sein Abschiedsgeschenk an sie, der krönende Schlusspunkt einer unvergleichlichen Karriere.
    Der Moment war gekommen. Michael Steiner trat aus der Künstlergarderobe, zog die Tür hinter sich zu und schritt wie so oft zuvor den schmalen Gang zur Bühne entlang. Er kam an der Maske vorbei. Das Theaterpersonal grüßte mit einem Nicken. Er bekam mit, wie der Sicherheitschef per Headset letzte Anweisungen gab. Steiner atmete einmal tief durch, schob voller Entschlossenheit den hinteren Bühnenvorhang zur Seite und eilte zum Podest.
    Das Publikum brach in ohrenbetäubenden Beifall aus. Michael verbeugte sich mehrmals. Es wirkte gar nicht wie der Anfang eines Konzerts, eher wie sein Ende.

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