Der Wolf
Bauchschmerzen ein, während sie überlegte, an wen sie sich in einer Welt, in der ihr niemand zuhören wollte, um Hilfe wenden konnte.
Karens Gespräch mit dem Detective verlief höchst unangenehm. Sie hatte den Brief zwei Mal gründlich gelesen und ihn dann wütend auf den Küchentisch geknallt, bevor sie das Telefon aus dem Sockel an der Wand nahm. Ihr schwirrte der Kopf, und sie konnte ihre Empörung kaum unterdrücken. Sie war es nicht gewöhnt, bedroht zu werden. Die alberne Märchenanspielung in dem Brief war ihr zuwider, und so gewann die effiziente, entschlossene, gebildete Frau in ihr die Oberhand: Ich habe nichts und niemanden zu fürchten. Und wer bist du? Der Böse Wolf? Wollen doch mal sehen. Ohne zu überlegen, was sie sagen sollte, wählte sie den Notruf.
Sie rechnete damit, dass der Mann in der Leitstelle sich bemühen würde, ihr zu helfen. Da lag sie falsch.
»Polizei, Feuerwehr, Notrufzentrale«, sagte er.
Selbst für eine solche Kurzmeldung, fand sie, klang die Stimme sehr jung.
»Hier spricht Doktor Karen Jayson, Marigold Road. Ich glaube, Sie verbinden mich am besten mit jemandem von der Kripo.«
»Um was für einen Notfall handelt es sich, Ma’am?«
»Doktor«, korrigierte sie ihn. Und bereute es augenblicklich.
»Verstehe«, hörte sie am anderen Ende. »Um was für einen Notfall handelt es sich, Frau Doktor?« Aus der Art, wie er das Wort betonte, hörte sie die Erschöpfung einer langen Arbeitsschicht heraus.
»Einen Drohbrief«, antwortete sie.
»Von wem?«
»Keine Ahnung. Er war nicht unterschrieben.«
»Ein anonymer Drohbrief?«
»Ja, genau.«
»Also, da sprechen Sie wohl am besten mit jemandem von der Kripo«, sagte der Beamte.
Mein Reden, dachte Karen, verkniff sich jedoch die Bemerkung.
Sie wartete darauf, durchgestellt zu werden. Die örtliche Polizei war klein und in einem wuchtigen roten Klinkerbau im Zentrum der nächstgelegenen Stadt untergebracht, direkt neben der Notaufnahme und Feuerwehr und gegenüber dem bescheidenen Rathaus. Sie wohnte gut fünf Meilen entfernt auf dem Lande und kam nur samstagmorgens an der Wache vorbei, wenn sie im unweit gelegenen Biomarkt einkaufte.
Vermutlich bestand die Hauptaufgabe der Ordnungshüter darin, die Geschwindigkeitsübertretungen gelangweilter Teenager auf den Highways zu ahnden, bei Handgreiflichkeiten zwischen Eheleuten einzuschreiten und mit den Drogendezernaten der größeren Städte zusammenzuarbeiten, da viele Dealer begriffen hatten, dass sie draußen auf dem Lande in aller Ruhe ihr Crystal Meth zusammenbrauen oder ihr Crack klein schnibbeln konnten, um es dann an den einschlägigen Straßen in der Stadt oder an den nahe gelegenen Colleges zu verhökern. Karen bezweifelte, dass in ihrer Kleinstadt zu irgendeinem Zeitpunkt mehr als zehn Polizisten Dienst hatten oder einer darunter eine nennenswerte Ausbildung genossen hatte.
»Hier spricht Detective Clark«, meldete sich eine kräftige, nüchterne Stimme am Telefon. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass dieser Beamte immerhin älter klang.
Sie nannte ihren Namen und erklärte dem Detective, sie habe einen Drohbrief erhalten. Sie wunderte sich, dass er sie nicht aufforderte, ihn vorzulesen, sondern eine Salve an Fragen abfeuerte, die nächstliegende zuerst.
»Haben Sie eine Vermutung, wer Ihnen den Brief geschickt haben könnte?«
»Nein.«
»Können Sie irgendwelche besonderen Merkmale entdecken, von denen Sie auf den …?«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Einen New Yorker Poststempel, das ist alles.«
»Sie haben also keine Ahnung, um wen es sich bei dem Absender handeln könnte?«
»Nicht den leisesten Schimmer.«
»Also, hatten Sie in letzter Zeit irgendwelche Beziehungsprobleme …?«
»Nein. Seit Jahren nicht.«
»Haben Sie sich beruflich Feinde gemacht?«
»Nein.«
»Mussten Sie in jüngster Zeit einem Mitarbeiter kündigen?«
»Nein.«
»Hatten Sie Streitigkeiten mit Nachbarn? Zum Beispiel eine üble Auseinandersetzung über eine Grundstücksgrenze, oder Ihr Hund ist ausgebüxt und hat eine Katze gejagt, so was in der Art?«
»Nein, ich habe keinen Hund.«
»Ist Ihnen in den letzten Tagen oder Wochen etwas Ungewöhnliches aufgefallen, zum Beispiel anonyme Anrufe oder Fahrzeuge, die Ihnen auf dem Weg zur oder von der Arbeit gefolgt sind?«
»Nein.«
»Hat es in letzter Zeit bei Ihnen zu Hause oder im Büro Diebstähle oder Einbrüche gegeben?«
»Nein.«
»Haben Sie Ihre Brieftasche oder Kreditkarte oder sonst etwas verloren,
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