Der Wolf
bringen würde und für die praktisch jeder im Gesundheitswesen, zu dem die Ärztin gehörte, nur Verachtung übrig hatte.
Es war später Abend, lange nach der üblichen Essenszeit, als Karen in die Kieseinfahrt zu ihrem Haus einbog und an dem zerbeulten, alten Briefkasten am Straßenrand hielt. Sie lebte in einem ländlichen Teil des County, in dem die etwas teureren Eigenheime ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt lagen und viele davon Aussicht auf die fernen Berge boten. Wenn sich im Herbst das Laub färbte, war der Blick spektakulär, doch diese Jahreszeit war vorbei, und es herrschte kalter, nackter, nasser Winter.
Im Haus brannten sämtliche Lichter, allerdings nicht, weil jemand da war, um sie zu begrüßen; vielmehr hatte sie, da sie allein lebte und an traurigen Abenden wie diesem nicht in ein dunkles Haus zurückkommen wollte, eine Zeitschaltuhr eingerichtet. Es war zwar nicht dasselbe wie der Empfang durch eine Familie, doch gestaltete es die Heimkehr ein wenig behaglicher.
Sie hatte zwei Katzen – Martin und Lewis –, doch der arttypische Enthusiasmus, der ihr beim Nachhausekommen entgegenschlug, hielt sich, wie sie einräumen musste, in Grenzen. Bei der Wahl ihrer Haustiere hatte sie gemischte Gefühle gehegt. Sie hätte lieber einen Hund gehabt, einen Golden Retriever, der schwanzwedelnd an ihr hochsprang und seinen bescheidenen Verstand durch das Ungestüm wettmachte, mit dem er ihr seine Gefühle zeigte, doch da sie so lange arbeitete, hätte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, besonders bei einer Hunderasse, die menschliche Gesellschaft brauchte. Die Katzen eigneten sich mit ihrer stolzen Unabhängigkeit und ihrer abgehobenen Lebenseinstellung besser für die Isolation von Karens Alltag.
Dass sie allein und weit weg von den Lichtern und dem Puls der Stadt lebte, hatte sich über die Jahre ergeben. Sie war einmal verheiratet gewesen. Es hatte nicht funktioniert. Sie hatte einen Liebhaber gehabt. Es hatte nicht funktioniert. Sie war eine Beziehung mit einer Frau eingegangen. Es hatte nicht funktioniert. Schließlich hatte sie auch One-Night-Stands mit Barbekanntschaften aufgegeben und wenig später den Internet-Vermittlungsdiensten den Rücken gekehrt, die einem mit Hilfe eines ausführlichen Fragebogens die perfekte Partnerschaft versprachen und damit lockten, dass die Liebe gleich um die Ecke auf sie wartete. Auch das hatte nicht funktioniert.
Was ihr blieb, waren ihr Beruf und ein Hobby, das sie vor den Kollegen verbarg: Sie war passionierte Komikerin, wenn auch blutige Amateurin. Einmal im Monat fuhr sie zu einem der vielleicht zehn Comedyclubs im gesamten Bundesstaat, die »Open-Mike-Abende« veranstalteten, und probierte verschiedene Nummern aus. Es war vollkommen unvorhersehbar, ob das Publikum johlen und lachen würde oder mit versteinernter Miene und verächtlich geschürzten Lippen vor ihr säße, bevor die unvermeidlichen Buhrufe ertönten und sie im gnadenlosen Scheinwerferkegel die Flucht ergreifen müsste. Karen liebte es, die Leute zum Lachen zu bringen, und sogar die peinliche Situation, von der Bühne gepfiffen zu werden, hatte für sie ihren eigenen Reiz. Beides erinnerte sie an die Brüchigkeit und Unwägbarkeit des Lebens.
Sie besaß einen kleinen Apple-Laptop mit einigen wenigen Anwendungsprogrammen, auf dem sie ihre Comedynummern schrieb und neue Witze ausprobierte. Ihr normaler Computer war voll mit Patientenakten, medizinischen Daten und dem üblichen elektronischen Kleinkram eines beschäftigten Berufstätigen. Den kleineren hielt sie vor den Kollegen, ihren wenigen Freunden und entfernten Verwandten geheim wie ihr Hobby selbst. Ihr Alter Ego als Comedian war, wie das Rauchen, eine Sucht, von der niemand wissen musste.
Die Briefkastenklappe stand der schlechten Gewohnheit des Briefträgers gemäß ein wenig offen, was oft dazu geführt hatte, dass ihre Post Schnee und Regen ausgesetzt gewesen war. Sie stieg aus, lief hinüber und nahm mit einem Griff alles heraus, ohne einen Blick darauf zu werfen. Inzwischen nieselte es, und ein paar eisige Tropfen erwischten sie im Nacken, so dass sie fröstelte. Mit ein paar eiligen Schritten war sie wieder hinterm Lenkrad, und sie fuhr energisch an, so dass unter den Rädern der Kies und das erste Eis, das sich in der Einfahrt gebildet hatte, aufspritzten.
Wie meist, wenn sie einen Totenschein unterschrieben hatte, musste sie immer wieder an den alten Menschen denken, der an diesem Tag gestorben war. Es war, als hätte
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