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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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geradezu zwingend, dass die beiden Briefe gleichzeitig eintrafen. Wieder einmal gab es einen völlig überzogenen Streit um irgendeinen dramatisierten Zankapfel zwischen den beiden. Sie lagen sich endlos in den Haaren und erlaubten ihren Anwälten, sich mit Drohungen aufzuspielen. Das entscheidende emotionale Schlachtfeld ihrer Eltern, das Waterloo, das sie wie Bonaparte und Wellington umkämpften, war Jordan. Sie brauchte die Briefe nicht zu öffnen, um zu wissen, was sie finden würde: eine Erklärung für die jeweilige nicht verhandelbare Position und die unschlagbaren Gründe, die dafür sprachen, dass Jordan sich der eigenen Auslegung der Ereignisse anschließen sollte. »Würdest du nicht viel lieber bei mir leben, Liebling, statt bei deinem Vater?« Oder: »Du weißt schon, dass im Denken deiner Mutter nur Platz für sie selber ist, nicht wahr, Schatz?«
    Erst seit kurzem hatten ihre Eltern sich angewöhnt, förmlich über die Post mit ihr zu kommunizieren, nachdem beide festgestellt hatten, dass sie E-Mails ignorierte und ihr Handy, sobald die jeweilige Nummer erschien, auf Mailbox schaltete. Die taktile Präsenz des geschriebenen Wortes auf dem zartrosa gefärbten, teuren Briefpapier ihrer Mutter dagegen oder auch das gediegen schwere Geschäftspapier ihres Vaters konnte sie nicht so leicht beiseiteschieben. Aber, dachte sie, ich lerne dazu.
    Sie steckte die beiden Briefe in den Rucksack. Es gab ihr ein kurzes Gefühl der Befriedigung, den ach so wichtigen Streitpunkt zwischen ihren Eltern zu ignorieren.
    Der dritte Brief kam überraschend. Abgesehen von ihrem Namen und dem New Yorker Stempel gab er nichts preis. Zuerst vermutete sie dahinter einen der vielen Anwälte, die mit der Scheidung beauftragt waren, doch dann dachte sie daran, dass diese Typen grundsätzlich exklusives Briefpapier benutzten, auf dem ihr Name und ihre Adresse prangten und somit auf den ersten Blick klar war, worum es ging. Dieser Brief hier war dünn. Während sie zu ihrem Zimmer lief, die Tür öffnete und eintrat, wendete sie den Umschlag drei Mal in der Hand und sah ihn sich genau an. Sie war nicht scharf auf Post. Es waren ohnehin nie gute Neuigkeiten.
    Sie ließ ihren Mantel auf den Boden fallen und warf den Rucksack aufs Bett. Dann nahm sie die Orange heraus und machte sich daran, sie zu schälen, hörte aber mittendrin auf und öffnete achselzuckend den Umschlag.
    Sie las die Botschaft langsam, dann ein zweites Mal.
    Als sie fertig war, sah Jordan auf, als hätte jemand mit ihr zusammen den Raum betreten. Ihre Unterlippe zitterte.
    Das soll doch wohl ein Witz sein, dachte sie. Jemand spielt mir da einen üblen Streich. Das kann nicht ernst gemeint sein.
    Es war die einzige nachvollziehbare Erklärung, auch wenn ihr in einem Winkel ihres Bewusstseins schwante, dass es dem Verfasser dieses Briefs nicht darum ging, etwas Nachvollziehbares zu tun.
    An diesem Morgen hatte sie noch gedacht, dass man sich einsamer nicht fühlen konnte, doch jetzt wusste sie, dass das ein Irrtum gewesen war.

[home]
    3
    P anik Eins.
    Panik Zwei.
    Panik Drei.
    Nach der Lektüre der Briefe geriet jede der drei Roten auf ihre eigene Weise in Panik. Sie alle wiegten sich in der Illusion, über ihre Emotionen, die plötzlich zu explodieren schienen, die Kontrolle zu bewahren. Jede von ihnen glaubte, angemessen auf die Drohungen zu reagieren, die richtigen Schritte zu unternehmen. Jede hatte das Gefühl, sie – und niemand sonst – könne für die eigene Sicherheit sorgen, falls sie überhaupt nach Sicherheit strebte. Jede versuchte die Bedrohung richtig einzuschätzen, und alle drei gelangten zu grundverschiedenen Schlüssen. Jede der drei war unsicher, ob sie in realer Gefahr schwebte oder einfach nur wütend sein sollte, auch wenn es weder für das eine noch das andere eine Erklärung zu geben schien. Jede hatte ihre liebe Not damit zu begreifen, dass die Sache ernst war, und empfand nichts als Ratlosigkeit. Jede geriet in einen Zustand der Verwirrung, ohne es zu merken.
    Keine von ihnen schätzte ihre Lage annähernd richtig ein.
    Als Karen Jayson nach der Lektüre der Botschaft den ersten Schock überwunden hatte, war ihr spontaner Impuls, bei der Polizei anzurufen.
    Sarah Locksleys instinktive Reaktion war, die Pistole zu holen, die ihr verstorbener Mann in einer Stahlschatulle auf dem obersten Regal in seinem kleinen Arbeitszimmers aufbewahrt hatte.
    Jordan Ellis sackte einfach nur auf ihr Bett und rollte sich wie unter Übelkeit und

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