Der Wolf
Unterdes werden in der Nordsee weiterhin
Sonderabfälle »verklappt«, sterben dort die Seehunde wie
anderswo die Delphine in den neuen Netzen der Hochseefischer, wie die Wale weiterhin. Und während Bangladesch langsam im Meer versinkt, breiten sich anderwärts
die Wüsten immer schneller aus, ist die Sahelzone zum
Dauernotstandsgebiet geworden, in dem Millionen Afrikaner hungern und verelenden.
Es ist wahrlich kaum zu fassen, wie viele Katastrophenmeldungen uns in so kurzer Zeit zu Ohren gekommen sind, stets
»live« vom Fernsehen dokumentiert. Das läßt für die wenigen Jahre bis zur Jahrtausendwende noch einiges befürchten. Dabei sind wir in Europa, in Nordamerika, in Japan
und in Australien reicher als je zuvor. Andererseits ist es
ebendieser unser Reichtum, der nicht nur die Katastrophen
bedingt, sondern auch technischen wie politischen Fortschritt ermöglicht und uns somit hoffen läßt, die vielen
gewaltigen Probleme doch noch rechtzeitig lösen zu können. Die Zeit drängt allerdings, und die enormen Kosten
der Krisenbewältigung müssen wir alle tragen.
Und die Wölfe ? Bei dem soeben skizzierten Szenario mag
es absurd erscheinen, sich über die Zukunft einer Tierart
Gedanken zu machen, gar einer bislang für den wirtschaftenden Menschen vermeintlich so schädlichen wie des Wolfes. Was, so kann man fragen, interessieren uns die Überlebenschancen einiger weniger Wölfe in den fernen Abruzzen,
das Fortbestehen letzter ursprünglicher Lebensgemeinschaften um den Wolf irgendwo in Kanada oder in Sibirien, die
Wiederkehr von ein paar Wölfen in Schweden, wenn wir
selber bald alle ums Überleben zu kämpfen haben werden ?
In diesem Kampf seien Prioritäten zu setzen, und die gälten allemal den Menschen, nicht ihren Feinden.
Nun, wie die Bewältigung unserer angehäuften Probleme
auch immer, falls überhaupt, erfolgen wird – eines ist sicher :
Den Primat der Ökonomie über die Ökologie müssen wir
genau umkehren. Forderungen von Wirtschaft und Umwelt
dürfen nicht etwa gleichberechtigt nebeneinander stehen ;
vielmehr muß der Vorrang der Ökologie eindeutig gewährleistet sein. Jede andere Strategie ist langfristig zum Scheitern verurteilt und läuft letztlich auch auf schlechte Ökonomie hinaus, da sie vom Zins und nicht vom Kapital der
natürlichen Ressourcen bezahlt wird.
Zuerst bezeichnete der Wolf, zum Hund domestiziert,
den revolutionären Beginn einer systematischen Nutzung
dieser Ressourcen durch den Menschen. Später stand er,
wild geblieben, dieser Nutzung geradezu leibhaftig im Wege.
Sollte es jetzt infolge der Übernutzung unser Umwelt tatsächlich zu einer erneuten Revolution in unserer Beziehung
zur Natur kommen, zu einer Umkehrung der Prioritäten,
zu einer Wandlung der Umwelt zur Mitwelt, dann dürfte
auch der Wolf, hoch anpassungsfähig, wie er ist, davon profitieren. So gesehen, ist unser Schicksal mit dem des Wolfes
wie alles Lebendigen verwoben. Es mag zwar sein, daß der
unabdingbare Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Natur und Kultur eine Illusion bleiben wird.
Doch auch eine Illusion kann Hoffnung sein.
Zum Schluß
Es war am ersten Schultag nach den Sommerferien dieses
Jahres. Ich war in München, die Kinder in der Schule, Dagmar, meine Frau, zu Hause und die Wölfe in ihrem Gehege.
Das heißt, dort sollten sie sein. Sie waren aber ausgebrochen. Eine unserer Hennen hatte sich entschlossen, ausgerechnet am Gehegezaun ihr Nest zur Eiablage anzulegen. Das war dann doch zuviel für die Wölfe. Sie zerrissen
den Zaun, packten das Huhn und drei weitere dazu und
versuchten dann als erstes, ihre Beute in unserem Seerosenteich zu ertränken. Als Dagmar das hörte, dachte sie,
die ungeliebten Enten seien wieder einmal verbotswidrig
dorthin zurückgekehrt, schrie zum Fenster hinaus – und
bekam einen großen Schreck, als sie statt dreier Enten auf
dem Teich vier Wölfe in dem Teich sah, die immer noch
je ein Huhn zu ertränken versuchten.
Dagmar kann sehr laut schreien. Die Wölfe können auch
sehr laut heulen, aber vor dem Schreien des Menschen haben
sie Angst. So rannten sie hinüber auf das Nachbargrundstück. Dort steht die Dorfschule. Kaum waren sie drüben,
klingelte bei Dagmar schon das Telefon. Es war die strenge
Hausmeisterin. »Ihre Wölfe laufen mit Hühnern im Maul
auf dem Schulhof herum«, teilte sie mit. »In fünf Minuten
ist große Pause. Machen Sie was !«
Jetzt muß man die Vorgeschichte kennen, um zu verstehen, was dann passierte. Es
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