Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
zu behalten.
Er packte das Amulett und flüsterte die magische Eröffnungsformel für die Heilung. Dann griff er behutsam mit seinem Geist aus. Daran zumindest erinnerte er sich noch – wie er die Gedanken eines anderen Menschen erreichte, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen.
An den Übungen im Unterricht hatte er nur halbherzig teilgenommen. Sie hatten sich zu zweit zusammengetan, und dann …
Der Kanal öffnete sich, und er war durch. Sie war so kalt, so kalt ; die vergiftete Wunde war wie ein offenes Fenster, aus dem die Hitze und die Lebensenergie ihres Körpers strömten.
In gewisser Weise stupsten Heiler den Patienten an; sie überzeugten ihn davon, dass er gegen das Leiden ankämpfen musste. Zitternd grub Han seinen Geist noch tiefer, bahnte sich vorsichtig seinen Weg zu der Lebensflamme, die in ihrem Innern schwelte.
Komm schon, Rebecca. Kämpf dagegen an. Lass nicht zu, dass du ihretwegen draufgehst. Bleib bei mir. Gib nicht auf. Lass sie nicht gewinnen.
Es war, als wenn er ohne Orientierung in eine kalte Höhle marschiert wäre und im Dunkeln auf Erinnerungen und Gefühle stieß. Bilder aus einem anderen Leben glitten durch seinen Geist – und vieles davon ergab für ihn keinerlei Sinn. Eine große Wasserfläche – ein Ozean, den er noch nie gesehen hatte. Ein Paar rote Tanzschuhe. Ein opulenter Palast. Eine Smaragdkette mit einem Schlangenanhänger. Der Blick durch eine Glasscheibe auf Fellsmarch bei Nacht, während magische Lichter die Straßen beleuchten.
Und Leute: Amon Byrne in einer schicken Uniform, wie er Haltung annehmend vor einem Eingang steht. Averill Lightfoot Demonai, das Gesicht weich und voller Zuneigung, die jemand anderem gilt.
Lord Demonai? Rebecca kennt Lord Demonai?
Nun, sie hat Clan-Blut in sich.
Eine elegante, blonde Dame, die ein Neugeborenes in den Armen wiegt und mit einer hohen, klaren Stimme ein Schlaflied singt. Micah Bayar, in Schwarz und Weiß gekleidet, wie er beide Hände ausstreckt und seine schwarzen Augen vor Begierde und Triumph leuchten.
Nein. Han wandte sich von dem Bild ab und sah sich selbst, in der Schildkröte, in jenem Zimmer im oberen Stock; er hielt die Spieluhr, die er Rebecca geschenkt hatte, in den Händen. Und dann war er sehr nah und beugte sich mit seinen goldgesprenkelten Augen zu einem Kuss zu ihr herunter. Dies von der anderen Seite zu erleben, von innen, war ein ganz besonderes Gefühl.
Han schwamm in einem Meer von Emotionen … tiefe Schuld … Sehnsucht nach zu Hause … ein schmerzhaftes Gefühl von Verlust, der nicht sein eigener war … Wut und Verrat und Angst.
Und jetzt kämpfte sie tatsächlich dagegen an, erbittert und mit dem Hauch von Kraft, der ihr noch verblieben war. Aber sie kämpfte gegen ihn an. Sie sah ihn als Bedrohung, nicht als Hilfe. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht, dass er ihre Geheimnisse entdeckte.
»Hör auf und spar dir deine Kraft«, flüsterte er. »Ich werde nicht länger dort eindringen, wo ich nicht erwünscht bin.«
Er wandte seine Aufmerksamkeit der Verletzung zu. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, wie er die Wirkung des Giftes aufheben oder es aus ihrem Körper vertreiben konnte. Er wusste einfach nicht genug darüber.
Aber wenn er sie schon nicht von dem Gift befreien konnte, vielleicht konnte er es dann wenigstens in Schach halten und daran hindern, sie zu töten, bevor sie das Camp erreichten. Und so grub er seinen Geist wieder hinein und errichtete eine Mauer zwischen dem Gift und der Lebenskraft in ihr.
Zeit verging, und das Gift breitete sich nicht weiter aus. Es blieb, wo es war, in dem Fleisch, das die Wunde umgab.
Aber nun musste er dafür bezahlen. Rebecca mochte vor dem Gift geschützt sein, aber jetzt war er selbst angreifbar. Obwohl er viel größer war als Rebecca, spürte er schon bald die Wirkung des Giftes. Er schwankte im Sattel, sein Kopf pochte, er fröstelte, und ihm war übel. Ragger schnaubte und tänzelte herum; er war auf der Hut vor dem benommenen Fremden auf seinem Rücken. Wenn sie jetzt auf weitere Attentäter stießen, das wusste Han, würde er sich unmöglich verteidigen können.
Er befand sich auf feindlichem Terrain, und sein Instinkt sagte ihm, dass er sein Schlangenstabamulett vor allen Blicken verbergen sollte. Er steckte es unter sein Hemd, außer Sichtweite, sodass es direkt auf seiner Haut ruhte. Stattdessen zog er den Einsamen Jäger hervor, Dancers Kopie des Amuletts, das ursprünglich Elena Cennestre für ihn angefertigt hatte, und ließ
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