Rheingrund
1
Dienstag, der 8. April
Ruth Diephoff stand am Küchenfenster und hielt das Enkelkind auf dem Arm. Sie winkte der Tochter zu, die unten vor dem Haus die Reisetasche aufnahm und in ein Taxi stieg, das sie zum Hauptbahnhof bringen sollte. Die junge Frau wollte zu einem Wochenendseminar nach Frankfurt. Mehrere Zeugen sahen sie in Wiesbaden in den Zug steigen. Bei dem Seminar kam sie jedoch nicht an.
»Seit diesem Tag fehlt von Marika Inken jede Spur.«
Lutz Tann beendete seine Zusammenfassung und blickte Norma erwartungsvoll an. Er war überraschend im Büro erschienen, als sie die Belege für die Steuererklärung sortierte und für jede Ablenkung dankbar war. Mit einem Griff räumte sie einen Packen Rechnungen vom Besucherstuhl und bot Lutz einen Kaffee an, der ihrem Schwiegervater nicht schwarz und stark genug sein konnte. Lutz unternahm einen unsinnigen Versuch, die Katzenwolle vom Kissen zu klopfen, bevor er mit einem eleganten Beinschwung Platz nahm, am Becher nippte, den Kaffee lobte und beiläufig anmerkte, er habe vielleicht einen Auftrag für sie.
Norma deutete auf die Papierstapel auf dem Schreibtisch. »Ich übernehme jeden Fall, der mich davon abhält, diese Zettel abzuheften.«
»Sogar einen Fall, der 15 Jahre alt ist?«
Er beobachtete, wie sie den Topf von der Kochplatte nahm, einen Schwall Milchschaum auf den Kaffee goss und mit dem Becher in der Hand zur Tür ging. Draußen auf der Fensterbank maunzte der Kater. Leopold stolzierte herein und hielt schnurstracks auf den Gast zu. Sanft wie ein Kätzchen strich er ihm um die Waden. Lutz gab sich unempfänglich für Schmeicheleien und beachtete das Tier nicht.
Norma kehrte an den Schreibtisch zurück. »Dann lass mal hören.«
In wenigen Sätzen berichtete Lutz von seinem Anliegen. Er kannte Ruth Diephoff von verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen, in denen sich beide engagierten. Die Mutter wollte sich mit dem ungeklärten Schicksal der Tochter nicht abfinden und wartete Tag für Tag auf ein Lebenszeichen. Die Polizei war damals von einer Selbsttötung ausgegangen. Marika Inken galt als höchst labil, berichtete Lutz. Die junge Frau litt seit der Geburt ihres Kindes unter Depressionen und hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Allerdings fand man weder einen Abschiedsbrief noch die Leiche.
Norma hatte noch nie von Marika Inken gehört. Als die junge Frau im Rheingau verschwand, sammelte sie selbst als ehrgeizige Polizeianwärterin ihre ersten Berufserfahrungen in Bremen.
»Marika wäre nicht die erste Selbstmörderin, die der Rhein für sich behalten hat«, fuhr Lutz fort. »Ruth kann und will diese Erklärung nicht akzeptieren und unternimmt immer neue Anläufe, Licht ins Dunkel zu bringen. Ich muss dich warnen: An der Geschichte ist bisher eine Reihe von Privatdetektiven gescheitert.«
»Und trotzdem bittest du mich, den Fall zu übernehmen?«
Er hob abwehrend die Hände. »Ganz und gar nicht! Ich bin nur der Bote, weil Ruth mich darum gebeten hat. Sie erhofft sich von dir ein besonderes Verständnis. Gerade du könntest dich in ihre Situation hineinversetzen, glaubt Ruth.«
Norma beobachtete den Kartäuserkater, der die Bemühungen um Lutz aufgegeben hatte und sich die Regentropfen vom Fell leckte. Wenn es um die persönliche Betroffenheit geht, wäre Lutz der bessere Detektiv, dachte sie. Es war sein Sohn, der im vergangenen Sommer für viele Tage vermisst wurde.
»Warum wünscht Ruth ausgerechnet jetzt einen neuen Versuch?«
Lutz räusperte sich. »Marika war damals 27 Jahre alt. In zwei Wochen jährt sich der Tag ihres Verschwindens.«
Norma zögerte. »Das alles klingt wenig aussichtsreich. Ist ihr überhaupt damit gedient, wenn sie sich neue Hoffnungen macht?«
»Ruth ist eine starke Frau. Sie weiß, was sie tut. Hast du noch einen Kaffee für mich?«
Norma nahm den Becher entgegen und schenkte nach. Die Tür wurde aufgestoßen. Der Briefträger packte mit einem Gruß die Post auf den Schreibtisch und verschwand so behände, wie er gekommen war. Norma blätterte den Stapel flüchtig durch: eine Rechnung, drei Werbebriefe, ein von Hand beschrifteter Umschlag. Sie las den Absender und musste an sich halten, den Brief nicht umgehend im Papierkorb verschwinden zu lassen.
»Unangenehme Post?«, fragte Lutz. »Vielleicht vom Gericht?«
Wie immer, wenn sie seine Besorgnis und Fürsorge spürte, fühlte sie sich zwischen Dankbarkeit und Aufbegehren hin- und hergerissen. Ohne sein Eingreifen hätte sie diesen
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