Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
leid, dass ich dich angelogen habe, und es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musst.«
Han öffnete die Augen nicht.
»Ich hätte dich auch lieber noch nicht damit belastet, solange du dich nicht richtig erholt hast«, fuhr sie fort. »Es ist nicht fair. Aber ich wusste, dass jemand anderes es dir erzählen würde, wenn ich es nicht tue, und ich wollte es dir unbedingt selbst sagen.«
Han erwiderte nichts. Er hielt die Augen nach wie vor geschlossen. Seine Wimpern hoben sich dunkel von seiner Haut ab, die so blass und hart wie der Marmor von We’enhaven war, lediglich etwas beeinträchtigt durch die gezackte Narbe knapp neben dem rechten Auge.
»Das muss nichts – muss nichts zwischen uns ändern«, sagte Raisa. »Ich meine, natürlich wird es ein paar Dinge ändern, aber …«
Da öffnete Han die Augen. Als er sprach, war seine Stimme leise und durch und durch kalt. »Für wie dumm hältst du mich?«
Etwas Furchteinflößendes lag auf seinem Gesicht. Etwas, das ihr sagte, dass sie jetzt der Feind war und dass er ihr nie wieder vertrauen würde.
Raisa schüttelte den Kopf. »Ich halte dich nicht für dumm«, sagte sie. »Ich weiß, dass du …«
»Glaubst du, ich weiß nicht, wie es in der Welt läuft?«, fragte er. »Glaubst du, ich weiß nicht, wie es zwischen Leuten wie dir und Leuten wie mir läuft? Glaubst du, ich war vorher noch nie mit blaublütigen Mädchen zusammen?« Er schnaubte. »Sie sind gern nach Ragmarket runtergekommen, wenn sie auf der Suche nach einem Abenteuer waren. Nach einer kleinen Abwechslung mit jemandem, der ihr Leben auf lange Sicht nicht verkomplizieren würde.«
»Aber ich sehe dich nicht so«, beteuerte Raisa, die sich getroffen fühlte.
»Vielleicht bin ich ja auch nur ein Teil deiner … wie hast du es doch gleich genannt … Stiftung«, sagte er verbittert. »So eine Art ganz persönliche gute Tat. Eine Möglichkeit, die Ungewaschenen und Unwissenden zu erheben, und …«
»Wenn ich mich recht entsinne, bist du zu mir gekommen«, konterte Raisa, die sich nicht zurückhalten konnte. »Ich habe nicht nach Arbeit gesucht. Du hast mich gebeten, dich zu unterrichten, und ich war damit einverstanden.«
»Das sieht mir wieder ähnlich, dass ich mir von allen möglichen Leuten in Odenford ausgerechnet eine Prinzessin aussuchen musste«, sagte Han. »Ich hab wirklich einen Blick für so was. Ich konnte schon immer eine volle Börse erkennen.« Er fingerte unbewusst an den Handgelenken herum, als wären dort noch seine Armreifen. »Es muss für dich ziemlich lustig gewesen sein mitanzusehen, wie so ein liebestrunkener Narr drauflosplappert. Wie soll ich sagen – da hat der arme Alister sich selbst übertroffen.«
»Ich belustige mich nicht über dich«, sagte Raisa. »Wie könnte ich? Du bedeutest mir etwas. Ich …«
»Dein Pony bedeutet dir auch etwas«, sagte Han. »Es erweist dir einen nützlichen Dienst .« Er schloss die Augen wieder, als könnte er es nicht ertragen, sie noch länger anzusehen.
Raisa hatte das Gefühl, einfach nie das Richtige zu sagen. Wenn es hier überhaupt etwas Richtiges gab. Han Alister hatte es schon immer geschafft, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Während es ihr sonst so leichtfiel, über alles Mögliche zu plaudern, war sie jetzt völlig unfähig, sich auszudrücken; die Trauer über ihre eigenen kürzlich erlittenen Verluste und ihre Schuldgefühle darüber, dass sie ihn getäuscht hatte, machten es ihr unmöglich, die richtigen Worte zu finden. Alles, was sie sagte, schien es nur noch schlimmer zu machen.
»Ich kann es natürlich nachvollziehen, wenn du … wenn du wütend bist. Ich weiß, dass du die Wache der Königin und … und Königin Marianna für das verantwortlich machst, was mit deiner Familie passiert ist. Vielleicht machst du auch mich dafür verantwortlich. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, sie zurückzuholen. Aber das kann ich nicht. Ich würde alles darum geben, dir das nicht eingestehen zu müssen. Du musst das Gefühl haben, als wäre dein Vertrauen missbraucht worden.«
Han öffnete die Augen und sah sie vollkommen reglos an. »Deine Mutter ist tot«, sagte er. Es klang wie eine Feststellung.
»Ja«, sagte Raisa.
»Gut«, sagte er und schloss die Augen wieder.
Und riss sie abrupt auf, als vom Eingang her Amon Byrnes Stimme ertönte.
»Ho… Rai…äh … Wäre es jetzt passend?«
Die Art und Weise, wie Amon bei ihrer Anrede ins Stolpern kam, verriet Raisa, dass er nicht wusste,
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