Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
scharrte ungeduldig mit seinen Rädern.
Den Blick unverwandt auf das Geschöpf gerichtet, schob Beth sich auf dem Hintern rückwärts, bis sie in ihrem Rücken die Tunnelwand spürte. Sie rappelte sich auf – und erstarrte.
Die Scheinwerfer folgten ihr wie die Augen eines misstrauischen wilden Tiers. Es schnaubte erneut, weniger aufgebracht diesmal, und der Ton wurde höher am Schluss, als stellte es eine Frage, als wäre es neugierig .
Was bist du? Beth blinzelte durch das grelle Licht und stolperte vorwärts. Einer Eingebung folgend, hob sie zaghaft die Hand bis über die Räder und tätschelte seine Seite. Eine Art Wiehern drang aus dem Zugwesen, das klang wie ein Ausdruck von Wohlbehagen.
Was soll ich tun? , dachte sie ungläubig. Dich hinter den Ohren kraulen? Wo zur Hölle sind deine Ohren, und wie soll ich dich dahinter kraulen? Sie überlegte, ob sich genau so womöglich ein kompletter Nervenzusammenbruch anfühlte. Du bist übergeschnappt , sagte sie sich. Das hier kann nicht real sein.
Ein welliger Bogen aus blauer Elektrizität tänzelte über die Oberfläche des Zuggeschöpfs, und Beth machte einen Satz rückwärts. Für einen Sekundenbruchteil sah es neu und unberührt aus, das Fahrgestell erstrahlte in frischem Glanz – doch nur für einen Sekundenbruchteil, dann kehrte die narbige Metallhaut zurück.
»Was bist du?«, sagte Beth sanft zu ihm. »Was willst du?«
Wie zur Antwort schnaubte das Zugwesen wieder, und gleich darauf öffneten sich zischend die Türen des vorderen Abteils.
Beth wappnete sich und stieß eine Hand in den Innenraum. Sie rechnete halb damit, dass sie in blaue Flammen aufgehen würde. Nichts geschah. Sie fühlte sich wie in Trance, wie ein Stück Treibholz auf einer Flut vollkommener Unwirklichkeit. Sie legte die Handflächen auf den Boden des Wagens, bereit, sich an Bord zu ziehen.
Ein Gedanke durchzuckte sie kalt: Was, wenn ich nicht zurückkann?
Ihr fiel wieder ein, wie Gorecastle auf sie herabgeblickt, wie ihr Vater zu ihr heraufgestarrt hatte, und sie dachte an Pen, vor allem an Pen, zusammengekauert in weidwundem Zorn.
Beth warf einen Blick über die Schulter. Von der Wand schaute ihre Mutter zurück. Sie sprang in den Zug.
Kapitel 6
Es piepste, dann glitten die Türen leise ins Schloss. Beth schwang sich auf die Füße und sah sich um. Sie war nicht allein. Dutzende von Gestalten drängten sich auf den Sitzen: Männer und Frauen in Businessanzügen, Teenager, die für nichts anderes Augen hatten als für ihre flackernden Telefone, ein altersschwacher Rentner, halb unter Plastiktüten begraben.
»Ähm – äh, entschuldigen Sie«, setzte Beth an und bahnte sich zwischen ihnen einen Weg den Gang entlang, »’tschuldigung, aber was genau ist das hier? Wo sind wir?«
Niemand antwortete; niemand nahm auch nur die geringste Notiz von Beth. Sie ging auf ein Mädchen zu, das etwa im selben Alter zu sein schien wie sie. Es trug eine piekfeine Schuluniform und machte Kaugummiblasen wie eine Mangafigur. »Hey«, sagte Beth, »alles klar?«
Das Mädchen sah nicht zu ihr auf, blies einfach weiter ihre Blasen, ließ sie platzen und fing von vorne an: aufblasen, platzen, einsaugen, kauen; aufblasen, platzen, einsaugen, kauen.
Während Beth dabei zusah, merkte sie, dass die Blasen alle identisch waren und dass jede einzelne in exakt gleichem Abstand vor den heftig geschminkten Lippen des Mädchens zerplatzte.
Beth starrte sie an. Ein kitzliger Schauer durchzuckte sie, als sie zu verstehen begann. Das ist immer dieselbe Blase , dachte sie.
Sie blickte sich um und erkannte jetzt, dass auch alle anderen Passagiere in dem Abteil immer und immer wieder bloß eine Sache taten: sich an der Nase kratzen, die Beine übereinanderschlagen, auf einem Handy herumtippen, eine Seite umblättern. Sie hatte es in dem trüben, flackernden Licht zunächst nicht bemerkt, doch bei näherem Hinsehen konnte sie für den Bruchteil einer Sekunde eine Unstimmigkeit ausmachen, wenn die Endlosschleife jeder Person wieder auf Anfang sprang. Während Beth sie anstarrte, begann das Mädchen vor ihr zu flimmern, verblasste, bis Beth kurz den fleckigen Stoff der Rückenlehne durch ihren Bauch hindurchschimmern sehen konnte, dann war sie wieder da, blies ihre eine perfekte Blase.
»Du bist nicht real, oder?«, sagte Beth leise, und die Seltsamkeit dieser Worte klirrte durch ihren Körper. Sie sagte es laut: »Du bist nicht real – «
Seid ihr Gespenster? , fragte sie sich mit einem Schaudern. Seid
Weitere Kostenlose Bücher