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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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zurückzugewinnen. Sie rappelte sich hoch und rannte hinüber zu ihrem Zug.
    Er antwortete ihr mit einem kläglichen Wimmern seiner Pfeife.
    »Hey«, flüsterte sie, »hey, bist du okay?« Sie tätschelte, streichelte ihn, auch wenn das Metall um seine Wunden unter der Berührung beinahe zu glühen schien. Er rührte sich wieder, stieß erneut einen Laut aus. Beth spürte die Angst und den Schmerz, die ihm entströmten, und die Haare auf ihren Armen stellten sich auf. Durch die Fenster sah sie die Erinnerungsgestalten, die weiter ihre Handlungen wiederholten, doch auf ihren Gesichtern lag jetzt ein Ausdruck von blankem Entsetzen.
    Der Zug stöhnte und drehte sich unter Schmerzen auf seine Räder.
    »Ist ja gut«, raunte sie, »ist ja gut. Hör zu, da ist so ein Junge – dieser Güterzug hat ihn. Er … er hat mich zur Seite gestoßen, mich gerettet – wir müssen ihm helfen … könntest du – ?«
    Vielleicht verstand das Wesen sie nicht – wie sollte es? Vielleicht fürchtete es sich auch zu sehr – doch nein, im nächsten Augenblick machte es einen Satz vorwärts, kam in Bewegung, brüllend vor Panik wie ein verwundetes Tier. Mit wirbelnden Achsen rauschte es Richtung Bahnhof.
    Beth blieb einsam und winzig hinter ihm zurück, rang keuchend nach Atem. »Warte … « , begann sie, doch die Stimme versagte ihr, während sie ihm nachstarrte.
    Von den Gleisen hinter ihr drang rollender Donnerhall: Der Güterzug kehrte polternd zurück, stieß ein scharfes Triumphgeheul aus. Der Junge mit der betongrauen Haut war inzwischen beinahe abgeschüttelt, hing jetzt nur noch seitlich am Triebwagen, und sein Körper zuckte im Wind wie ein Wimpel.
    Voller Entsetzen sah Beth zu, wie das Ungetüm geradewegs auf die Stützmauer der Überführung zuschoss, sich dann jedoch, nur Sekundenbruchteile vor dem Einschlag, auf die Seite warf und im nächsten Augenblick unter fürchterlichem Getöse quer an den Ziegeln entlangknirschte. Ein grässlicher, ohrenbetäubender metallischer Laut gellte durch die Luft – ein Laut, in den sich ein schriller menschlicher Schrei verirrte.
    Als die hinteren Waggons an ihr vorbeirasten, sah sie ihn, den betongrauen Jungen. Mit dem Gesicht nach unten lag er regungslos auf den Gleisen. Jedes Atom ihres Körpers schrie nach Flucht – sie sollte nicht hier sein, hätte niemals in diesen Zug steigen dürfen. Doch die Erinnerung an den Ellbogenstoß des Jungen hielt sie zurück.
    Er hatte ihr das Leben gerettet.
    Und dann rannte sie, bloß dass sie auf den Jungen zurannte, ihre zittrigen Beine verfluchte, ihre zerschundenen Arme schwang.
    Im Schatten des Bahnhofs holte der Güterzug bereits wieder neuen Schwung, geduckt wie ein Stier, um mit einer letzten Attacke seinen Feind zu vernichten. Er wirbelte herum, und Beth sah seine zornblitzenden Scheinwerfer.
    Sie warf sich mit den Knien voran in den Kies. Der Junge rührte sich nicht. Sein Knöchel war unter schweren Trümmerteilen begraben. Auf seinem Rücken klafften hässliche Risswunden, dort, wo er über die Ziegel geschleift worden war. Das Blut, das glänzend daraus hervorsickerte, war dunkel wie Öl.
    »Wach auf!« Beth schlug ihm ins Gesicht. »Wach auf!« Sie schüttelte ihn heftig. Das Ruckeln der Gleise verriet ihr, dass der Güterzug nah war.
    Frumm-ratter-ratter –
    »Wach auf!«, brüllte sie.
    Endlich regte er sich, wenn auch schwerfällig. Er murmelte etwas, doch sie verstand kein Wort. »Wach auf !« Sie schob ihm ihre Arme unter die Achseln und versuchte ihn wegzuziehen, aber es klappte nicht: Sein Knöchel saß fest.
    Der heranstürmende Güterzug dröhnte ihr in den Ohren.
    Eines der Lider des Jungen zuckte. Wieder murmelte er etwas, und diesmal konnte sie ihn gerade so eben verstehen, als er hauchte: »Speer … «
    Frumm-ratter –
    »Speer? Was für ’n Speer? Wo – ?« Sie blickte sich um.
    Die Eisenstange lag quer über den Schienen, zitterte unter dem Poltern des näher kommenden Monsters. Beth packte sie mit feuchten Händen und verkeilte sie als Hebel zwischen den Trümmern. Dann warf sie sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf, und der kleinste der Brocken hob sich, nur ein winziges Stück.
    Der Junge brüllte und sprang jäh auf die Füße. Seine Schulter traf Beth in den Bauch, ihre Füße verloren kurz den Bodenkontakt. Die Eisenstange schnitt ihr in die Haut, als er sie ihr aus der Hand riss.
    Beth warf den Kopf in den Nacken. Das Licht eines Scheinwerfers flutete auf sie herab, der Güterzug brüllte. Der Junge antwortete

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