Der Zauber der Casati
seine Frau. Ihre Nase ist ein wenig breit geraten, ihre Lippen sind sanft, ihr Blick ist traurig. Ganz in Schwarz ist sie gekleidet, sechs Reihen kleiner Perlen, dicht am Hals anliegend, und ein breiter Spitzenkragen wellt sich auf ihrer Brust. Eine freundliche, ernsthafte Frau, die nach Moschus und Reispuder duftet. Ein gewisser Hang zur Fülligkeit. Ich bin fast sicher: Diese Frau mag kleine Zitronenküchlein zum Tee.
Die Mädchen haben Gouvernanten und Hauslehrer. Sie leben in einer Welt voller Erwachsener – die Angestellten, die Eltern und deren Freunde, die Onkel und Tanten. Sie sind von sehr verschiedener Wesensart, aber darauf angewiesen, miteinander auszukommen. Ihre Spiele enden meist in Streit und Tränen. Wenn Luisa weint, dann still. Luisa ist scheu. Da bin ich mir sicher. Sie richtet große Augen auf die Welt, ihre Lippen kräuseln sich zu einem verschlossenen Schmollen. Eine Handvoll vergilbte Fotografien im Besitz des Casati-Archivs zeigen die beiden Schwestern in konventionellen Posen, identisch in Spitzenschürzen oder zu Karneval als Zenturionen kostümiert. Francesca ist die Hübschere. Luisa hat die flache Nase ihrer Mutter geerbt. Mein Gott, wie brav sie aussieht auf einem dieser Fotos, mit ihrem wohlgekämmten Schopf. Brav und fern.
Man kann sich die Mädchen vorstellen, wie sie durch die Flure der Villa Amalia laufen, auf der Suche nach Verbotenem. Die Schränke der Mutter quellen von Schätzen über. Allerdings sind die beiden Kleinen zu gut überwacht, als dass sie in die Privaträume gelangen könnten, und müssen sich mit Ausflügen in den Garten begnügen, wo Schnecken und Käferchen ihnen als Prinzen und Feen dienen.
Wenn der Vater geschäftehalber länger in Mailand bleiben muss, reist die Familie ihm nach. Im von Nippes überquellenden Rokoko-Salon sitzen die junge Mutter und ihre Töchter beim Feuer. Es ist Herbst, Spätnachmittag, das Licht senkt sich sacht. Draußen ballen sich bedrohlich graue Wolken über dem roten Platanenlaub, bereit, ihre Regenlast abzuwerfen. Die kleine Luisa hat sämtliche Modejournale ihrer Mutter auf dem Teppich ausgebreitet, den Moniteur de la Mode , das Journal des Desmoiselles und eine Nummer von L’Illustration , auf deren Titelseite eine Szene nach einem Maskenball in der Pariser Oper wiedergegeben ist. Beim Blättern träumt sie lange vor jeder einzelnen Seite. Ich bin sicher, dass sie am liebsten die Ballkleider studiert. Auch Fotos von Sarah Bernhardt sind zu sehen, in einem Kleopatra-Kostüm, mit allerlei Leopardenfellen und exzentrischen Diademen. Luisa schneidet Bilder aus und stellt sie zu abenteuerlichen Collagen zusammen. Das hat ihre Mutter ihr erlaubt, sie hat sie sogar gelehrt, aus etwas Mehl und Wasser Leim herzustellen. Wie geborgen sie sich fühlen muss, zu Füßen ihrer Mutter sitzend, von ihrer Wärme und Liebe umhüllt. Francesca hingegen hält die Schere verkehrt und stellt mit dem Leim ein großes Gekleister an. Wenn er über den Rand der Seite quillt, weint sie. Luisa wirft ihr einen verächtlichen Blick zu. Bambina piagnucolona. Heulsuse.
«Das ist wirklich hübsch, Ginetta. Du bist ja richtig begabt.» Luisa lächelt, sie wird gern gelobt, wie alle Kinder. Das Feuer knistert, draußen fängt es an zu regnen.
Am Vortag sind sie alle gemeinsam in der Scala gewesen. Luisa mag Opern weniger als ihre Schwester. Sie findet die Geschichten etwas abgeschmackt, diese Frauen, die vor Liebe sterben, und diese Männer, die einander singend erdolchen. Für Luisa findet das wahre Spektakel im Saal statt. Sie ist ganz geblendet von den Toiletten der Frauen, ihren Handschuhen, Fächern, ihrem Schmuck, der auch im Dunkeln noch funkelt. Sie hat das Glitzern der Diamanten und Perlen auf den weißen Hälsen noch vor Augen, die verführerisch glänzenden Stoffe. Sie liebt ihre Mutter von ganzem Herzen, doch verglichen mit den anderen Frauen findet sie sie in ihrem schwarzen Kleid eher glanzlos. Lucia war nicht die Schönste. Wahrscheinlich hat Luisa ihre Enttäuschung aber nicht gezeigt. Morgen wollen sie in den Palazzo Brera gehen und die Gemälde von Tintoretto, Tizian und Veronese bewundern. Luisa mag die Malerei. Vielleicht wird sie ja selbst irgendwann Malerin. Jetzt klebt sie erst einmal sorgsam einen Blumenstrauß anstelle des Kopfes auf eine Frauengestalt. Das Ergebnis ist zumindest überraschend. Sie reckt das Blatt stolz in die Luft, da lacht sogar Francesca.
Für das Frühjahr 1894 planen die Ammans einen Familienurlaub in Turin.
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