Der Zauber der Casati
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Prolog
W enn die Mütter nur besser erzählen könnten, würden sie ihre Kinder – wenn die nur nicht so zappelig wären! – mit der wahren Geschichte jener unheimlichen Gestalt erfreuen, die vor den blassen Häusern des Oxford Circus einhergeht. Und zwar ganz ohne diese Drohungen: «Sei brav, sonst holt dich die große Hexe und verschleppt dich für immer und ewig in ihr Spukschloss!»
Die Gestalt traut sich tagsüber nicht mehr vor die Tür, das ist zu quälend. Die Bewunderung ist dem Entsetzen gewichen, die Schatten sind ihr letztes Reich geworden. Dichter, Künstler und Gelehrte, alle haben sie verlassen. Sie sieht den konzentrierten Blick des Malers noch vor sich, der ihr Porträt verfertigte, und den fleckigen Parkettboden des Ateliers; sie berauschte sich an dem kräftigen Geruch des Terpentins. Der Legende zufolge soll sie nach Kleopatra und der Jungfrau Maria die am häufigsten gemalte Frau der Kunstgeschichte sein. Wie kommt es dann, dass niemand sie wiedererkennt? Sie schließt die Augen. Fast kann sie die kleinen Hände ihrer Dienstmagd noch spüren, die mit Nadeln die Falten ihrer goldbraunen Korsage feststeckt. Das Rascheln der Seide, der knatternde Tüll. Ach, was hatte sie Kleider und Pelze geliebt!
Die hagere Gestalt biegt in die Carnaby Street ein. Ihre Arme so lang wie Pendel, die feinen Hände an allzu dünnen Gelenken, wie Blüten, die für ihre Stängel zu schwer sind. Sie ist nicht mehr ganz so jung, und das Londoner Pflaster ist uneben; sie strauchelt in ihrem engen Etuikleid aus abgeschabtem Satin. Unter allerlei schwarzen Schleiern verbirgt sie ihre Augen, die mit Kohle geschwärzten Lider, ihr talkumblasses Gesicht, die allzu roten Haare. Kajal und Seidenpuder sind für sie, die keinen Penny mehr besitzt, zu teuer.
Sie schwankt. Jetzt könnte sie ein Glas Gin on the Rocks gebrauchen. Die an der Wand aufgereihten Mülleimer von Liberty sind noch nicht geleert worden. Fünf dunkelgrüne, randvolle Behälter. Angst, man könnte sie dabei sehen, hat sie keine. Angst hatte sie nie. Sie ist wieder das kleine Mädchen, das sich mit seiner Schwester auf Schatzsuche begibt. Wie fern die Villa Amalia ist! Ihr Puls schlägt schneller. Ob sie heute Abend Glück hat? Fieberhaft greift sie in den ersten Mülleimer. Allerlei Fetzen und vergilbtes Papier landen zu ihren Füßen. Aspetta … aspetta … Sie wühlt mit gekrümmten Fingern. Zeitungen, eine Büroklammer, ein alter Stift, fleckige Lumpen, ein Schnürsenkel, ein abgegessener Apfel, ein zerrissener Brief, Einwickelpapier. Sie stemmt sich auf die Zehenspitzen und wäre beinahe vornübergefallen. Wie ein Hund einen Knochen wittert, hat sie etwas Weiches gespürt. Es mit der Spitze des Zeigefingers berührt, doch dann ist es tiefer in den Eimer gerutscht. Die Abfälle ballen sich tückisch zusammen, ihr Ellbogen verschwindet darin. Sie tastet blindlings, flucht zwischen den Zähnen, wird wütend. Dann auf einmal erneut dieses Weiche. Ihre Hand packt zu, zerrt, und es gelingt ihr mit katzenhaftem Geschick, das Gesuchte aus dem Müll zu holen. Sie hält ein veilchenblaues Stück Samt hoch. Die Lumpensammlerin hat einen schönen Fang gemacht. Auf ihren ausgezehrten Lippen liegt das Lächeln einer Siegerin. Magnifico . Im Mondschein changiert der Stoff verlockend silbrig.
Damals … Kronleuchter, große Sträuße rosafarbener Orchideen, Frauen in federbesetzten Mänteln, goldpuderbestäubte Sklaven, die unter den Sternen Fackeln trugen. Ihre legendäre Menagerie: die Boa constrictor namens Anaxaragus, Geparden, Rosenbrustbartsittiche. Die Gondolieri, Amore mio , mit ihren Hütchen, und die Oberkellner im Ritz, wie sie dienerten: «Zu Diensten, gnädige Frau!» Das war kein Traum, das hat sie alles selbst erlebt. Sie hört noch den Gesang der Mandolinen und die schluchzenden Geigen. Sie hallen in ihrem Kopf wider und ertönen im Schlag ihres Herzens. Aus einem fernen Lande kommen sie, wie alte Lieder.
«Es war einmal, im Palazzo dei Leoni in Venedig, eine Frau, die mehr Edelsteine besaß als alle Sultane Arabiens. Ihr Leben war nichts als Rausch und Wolllust. Eines Tages beschloss sie, einen großen Ball zu veranstalten …»
Doch die Straßen sind menschenleer und die Kinder längst in ihren Betten. Die Mütter müssen diese Geschichte ein andermal erzählen. Vielleicht. Die Geschichte der aufsehenerregenden, der göttlichen Marchesa Casati.
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Erster Teil
Man muss sie – mindestens! –
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