Der Zauber der Casati
Luisa und ihre Schwester freuen sich voll Ungeduld darauf. Zwei Wochen vor der Abreise begeben die Eltern sich in Geschäftsdingen nach Florenz, und die beiden Mädchen, Luisa ist jetzt dreizehn, bleiben allein im luxuriösen Alltag der Villa Amalia. In Florenz aber erkrankt die Mutter plötzlich. Man bringt sie zu Bett und ruft den Arzt, dem nicht einmal mehr genug Zeit für eine Diagnose bleibt, so schnell stirbt sie. Zu jener Zeit konnte eine Siebenunddreißigjährige durchaus noch so schnell wegsterben. Der Vater kehrt nach Mailand zurück und teilt an einem Aprilmorgen seinen Töchtern die traurige Nachricht mit. Niemand hatte sich richtig verabschiedet, niemand hatte Versprechungen machen oder Ratschläge geben können. Es hatte Lucia einfach so hinweggetragen mit ihrem Haarknoten und den schwarzen Kleidern.
Ich kann mich nicht an Luisas Stelle versetzen. Ich kann nicht wissen, ob sie schrecklich litt, ob sie verstummte, um ihren Schmerz nur innerlich zu durchleben. Ich glaube aber, dass man einen Liebesvorrat anlegen kann. Anders als Schlaf- oder Wärmevorrat, das geht nicht, aber einen Liebesvorrat schon, einen, der lange hält. Auch wenn wir allein und verloren sind, können wir eine ferne, ernste Zärtlichkeit heraufbeschwören, die unser Herz behütet hat. Wenn ein lieber Mensch stirbt, dauert seine Liebe fort und trägt uns bis ganz zuletzt, auch wenn sie weniger werden mag, wir enorme Erinnerungsanstrengungen vollbringen müssen und sie doch irgendwann ein wenig verformt wird. Die Liebe einer Mutter, denn von der rede ich, hilft uns weiter, wenn wir hinreichend viel davon erfahren haben. Wir sollten den Tod derer, die uns geliebt haben, nicht fürchten, denn ihre Liebe lebt in uns. All jene abgegriffenen Bilder von unauslöschlichen Flammen und Bindungen, die stärker als der Tod sind, sie sind keine Lügen. Aber ich weiß nicht recht, ob meine Luisa genug Zeit hatte, sich einen solchen Vorrat anzulegen.
E s schmeichelte mir, dass er in mich verliebt war, dass er mir ein Flugticket schickte; stolz verkündete ich meinen Freunden von der Schauspielschule, ich würde in New York einen Film drehen. Soll mich ruhig auslachen, wer in richtigen Filmen mitgespielt hat, die in den Großkinos auf den Champs-Élysées gezeigt werden: Vor Henrys Kamera war ich der Star, wenigstes glaubte ich felsenfest daran, und das genügte mir. Ich frage mich heute, warum es mir derart wichtig war, einen Film zu machen. Schauspielerin sein, das heißt begehrt zu werden, begehrenswert zu sein, und ich dürste so nach Anerkennung. Das Schreiben ist kein Notbehelf, es ist notwendig, essenziell, aber ich bin keine Intellektuelle, ich bin eine Liebende, in meinem Leben hat die Liebe immer vor allem anderen gestanden.
Die Verführungskunst bewirkt bei denjenigen, die sie ausüben, seltsame Verwandlungen. Bei Henry spielte ich die Naive. Die Charmante, die lächelt und nicht begreift, was vorgeht. Eine, die in einer Welt ohne Begehren und Gewalt lebt, mit der kein Augenzwinkern, keine Zweideutigkeiten, keine Komplizenschaft möglich sind, auch kein Unwohlsein. Ich war klar und transparent wie Wasser. Man darf gespielt Naive nicht der Perversion bezichtigen. Sie wissen, dass die Männer sie ins Bett bekommen wollen. Sie weigern sich nur, die Realität anzuerkennen.
Henry nannte mich seine «Mjuse». Ich hatte Angst, er könnte sich an mir vergreifen, tröstete mich aber mit dem Argument, er sei genau der Typ für Erektionsprobleme. Zu überschwänglich, zu intellektuell. Alles an ihm war mir zuwider, die grobporige Haut, das etwas schiefe Lächeln, das er aufsetzte, um zu wirken, als könne er kein Wässerchen trüben. Seine Narbe flößte mir mal Angst, mal Mitleid ein. Beim Verführungsspiel mit jungen Männern meiner Generation hatte ich immer die Fäden in der Hand behalten, jetzt fürchtete ich mich davor, mit ihm allein zu sein. Der Altersunterschied erdrückte mich. Er hatte mehr erlebt als ich, mehr gelesen, getrunken, geraucht, mehr gelacht und geweint. Dem konnte ich nicht begegnen, also wich ich lieber aus.
Ich erinnere mich an den ersten Abend nach den Dreharbeiten. Wir hatten uns ja so viel zu sagen – wenigstens hoffte er das. Seine Wohnung war dunkel, ich spüre die eingeschlossene, beengte, von Begierde gesättigte Atmosphäre bis heute. Er kam vom Hundertsten ins Tausendste. Ein unstillbarer Plauderer, nie um eine Anekdote, ein Museum, das er besucht, ein Buch, das er gelesen hatte, verlegen. Sein Geist sprühte
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