Der Zauber der Casati
und hüpfte, kaum zu bändigen. Er gab mir Kartoffelchips mit Spinat zu essen, ich erinnere mich an den Piraten auf der Tüte. Einen zehnminütigen Vortrag hielt er mir dazu. Wie eine Spinne, die ihr Netz spinnt, umfing er mich mit langen, klebrigen Sätzen. Er wollte verhindern, dass ich ging. Mir war es ganz unerträglich, und ihm blieb mein Widerwillen dagegen, zu bleiben, ganz sicher nicht verborgen. Je mehr ich versuchte, seinen Stricken zu entkommen, desto eifriger warf er seine Netze aus, die mich lähmten. Es war ein verzweifelter Kampf. Ich tat unschuldig, blind für die Signale, die er aussandte. Er musste so eine Angst haben, eine Abfuhr zu kassieren. Da er nach hinten auswich, um besser Anlauf nehmen zu können, entfernte jeder Versuch ihn weiter vom Ziel. Ein Freund hat mir mal verraten, dass die Männer oft Scheu haben, sich vorzuwagen, weil sie das Verhalten der Frauen nicht zu interpretieren verstehen. Eine Frau weiß immer, wenn ein Mann sie begehrt. Umgekehrt ist das nicht der Fall. Ich erinnere mich an seine Angst. Angst zu lieben und nicht wiedergeliebt zu werden. Angst, weil er mir seit Monaten verliebte Mails schickte, die ich eine nach der anderen öffnete und las, und weil wir seit meiner Ankunft noch kein einziges Mal meinen Mann erwähnt hatten. Angst, denn ich war jung und hübsch und mit ihm allein in dieser kleinen Wohnung und draußen die Nacht. Angst, weil ich den ganzen Tag lang die Verführerin gespielt hatte, die wilde Geneviève. Eine von ihm erfundene Figur, die so war, wie er mich haben wollte, und jetzt ging im Kopf dieses armen Teufels, der mich nach New York geholt hatte, alles durcheinander. Jetzt war ich hier, er brauchte nur noch die Hand nach mir auszustrecken, aber er redete nur die ganze Zeit über Picasso, die Papageien der Marquise Casati und über den Piraten auf der Chipstüte.
Die Casati. Erzählte er mir an diesem Abend zum ersten Mal von ihr? Wahrscheinlich. Geneviève sollte Luisas kleine Schwester sein. Ihn interessierte einzig die exzentrische, schräge Seite der Figur: ihre Kleider, ihre nächtlichen Ausfahrten auf dem Canal Grande in Venedig, nur in einen Pelzmantel gehüllt. Er beschrieb sie mir, wie sie sich nackt im Mondschein darbot, nannte sie eine «Femme fatale» und genoss den französischen Begriff, bei dem er mir tief in die Augen schaute. Heute weiß ich, dass er sich irrte, Luisa war nie eine Femme fatale, nicht einmal eine Charmeurin; aber während er eine Anekdote nach der anderen losließ, wünschte ich mir glühend, dieser Frau zu ähneln, die ich mir als unerbittliche Verführerin vorstellte.
Ich war vierundzwanzig. Hätte er sich auf mich gestürzt, mich in seiner verzweifelten Liebe gewaltsam geküsst, ich weiß nicht, ob ich geschrien oder ihn angewidert hätte gewähren lassen. Wenn ich mir heute die Szene vor Augen führe, erkenne ich, dass ich mich noch viel ärger verhalten habe. Mit allerlei Mienen und Gelächle fachte ich seine Glut weiter an, ich aß die Chipstüte leer, Angst im Bauch, und ging dann völlig ungeküsst. Ohne Vorwarnung. Ich stand einfach auf und sagte: «Ich muss jetzt gehen, Esther wartet.» Treffsicher wählte ich den besten, den zweideutigsten Augenblick, der ihn in dem Glauben ließ, dass er, wäre ich auch nur eine Minute länger geblieben, den nötigen Mut aufgebracht hätte, und vielleicht hätten wir uns dann auf ewig umschlungen und die perfekte Liebe erlebt. Als er die Tür hinter mir zumachte, hatte ich ihm genügend widersprüchliche Zeichen gegeben, dass er bis zum nächsten Tag verunsichert sein konnte. Die reinste Pest.
I ch weiß nicht, ob Schriftsteller sich als Künstler bezeichnen dürfen. Ich habe mir Künstler immer als inspirierte Menschen vorgestellt. Schreiben hingegen ist für mich nichts als Recherche, ein klein-kleines Herumgebastel, eine mühsame, der Zeitenfolge unterworfene Übung. Mit so einer Ameisenfleißarbeit haben die Musen nichts gemein. Caesar stellte sich mir bei unserem ersten Kennenlernen als Künstler vor. Das fand ich unendlich eingebildet und bewunderte diese Anmaßung. Von sich zu sagen, man sei ein Künstler, ist die erste zu überwindende Schwelle, der erste Riesenschritt, um diesen erhabenen Status zu erlangen. Man sagt nicht «Ich glaube, ich bin ein Künstler» oder «Ich wäre gern ein Künstler», höchstens «Ich wäre gern einer geworden», wie im Chanson.
Ich ließ mir von meinem zukünftigen Mann also schon bei unserer ersten Begegnung Sand in die Augen
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