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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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unter der Woche arbeitete. Und wenn sie wochentags arbeitete, war sie keine Studentin.
    Es gab nur eins, was man in Les Crêts über Néon sicher wusste: dass er jeden Mittwoch, ganz gleich, wie schlecht das Wetter oder der Straßenzustand war, seine alte Karre aus dem Schuppen hinter seinem Chalet holte und morgens um zehn aus Les Crêts wegfuhr, um erst im Dunkeln zurückzukommen.
    »So ist das bei den Universitätsprofessoren«, erklärte Madame Huon. »Die arbeiten einen Tag in der Woche.« – »Einen Tag!«, rief Madame Antonioz. »Bis Chambéry braucht man mindestens zwei Stunden. Wenn man noch eine Stunde Mittagspause abzieht, dann bleibt nicht viel mehr als ein halber Tag.«
    Obiges könnte darauf schließen lassen, dass Néon unter der Beobachtung der Dorfleute stand. Dennoch bemerkte in Les Crêts am Mittwoch, dem 9. November, niemand, weder der Gastwirt noch besagte Damen, dass Paul seine Rostlaube an diesem besonderen Morgen nicht herausgeholt hatte, um sich wie gewöhnlich Richtung Tal zu bewegen, genauso wenig, wie er in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch – und übrigens auch in der Nacht zuvor – in seinem Bett geschlafen hatte. Hier lässt sich also nicht von echter Neugier sprechen. In den entvölkerten Alpendörfern ist es nicht anders als in den Wohnsilos der Pariser Banlieue, heutzutage lebt jeder sein eigenes Leben. Der dörfliche Mangel an Diskretion und die damit einhergehende soziale Kontrolle mögen vielleicht schwer zu ertragen gewesen sein. Nichtsdestotrotz wurde es früher, wenn ein gewisser Jemand morgens nicht aufstand, bis spätestens mittags in den nächstgelegenen zehn Häusern ruchbar, und selbst wenn dieser Jemand ein schon ergrauender, wortkarger und barscher Junggeselle war, der Gott weiß woher stammte, fand sich irgendeine Nachbarin, die an seine Tür klopfte und etwas in der Art sagte wie: »Stimmt was nicht, M’sieur Néon? Hallo! Alles in Ordnung?«
    Nichts dergleichen am Mittwoch, dem 9. November, in Les Crêts. Niemand hatte bemerkt, dass Paul seiner einzigen festen Gewohnheit nicht gefolgt war. Im Wetterbericht hatte man Niederschläge angekündigt. Tatsächlich war es ein milder Tag, so bald würde es noch nicht schneien. Regnen auch nicht, was immer die behaupten, sagte sich Alfred vom Alpette , während er in den Himmel schaute, der düster war, aber weiter nichts. Der Gastwirt machte sich einen Spaß daraus, die Vorhersagen des Dauphiné mit der Wirklichkeit vor seinen Augen zu vergleichen. »Heutzutage«, sagte er zu Parmentier senior, der höflich für sich behielt, dass er die nun folgenden Worte bereits auswendig kannte, »irren die sich nicht mehr nur über das, was kommt, sondern die irren sich übers Hier und Jetzt. Wenn die sagen, es regnet, dann regnet’s. Aber wann? Heut Nachmittag, heut Abend? Morgen? Oder übermorgen? Die wissen es auch nicht besser als früher die alten Leute, die sich auf ihre knarrenden Gelenke verließen. Ich würde sogar sagen, sie wissen es schlechter.«

2
    D er Unfall von Anne-Marie Montbrun war schon eine ganz andere Geschichte. Noch dazu handelte es sich um eine Mutter von vier Kindern. Die immer zwei oder drei mehr im Haus hatte und manchmal nach dem Abendessen in ganz Vauvert rumtelefonieren musste, weil ihr eins fehlte, eins von den eigenen: Beim Verteilen der Gutenachtküsse hatte sie von ihren vieren nur drei vorgefunden.
    Ein großartiges Mädchen. In ihren hautengen Jeans und den Paraboots Größe 36 sah sie aus wie fünfundzwanzig. Höchstens vierzig Kilo und ein wahrer Energiebolzen. Sie zog ihre Gören praktisch allein groß, weil ihr Mann nach Ölvorkommen forschte und nicht mehr als eine Woche pro Monat zu Hause verbrachte, sie hielt ihr Haus im Wald vorbildlich in Schuss und war immer bereit, jemandem einen Gefallen zu tun: mit ihrem alten Espace die Butangasflasche für Monsieur Menthaleau zu holen oder Madame Ageron, die sowieso nichts mehr sah, es aber nicht wahrhaben wollte, zum Supermarkt zu fahren.
    Immer gut gelaunt, diese Anne-Marie Montbrun, und immer pünktlich, so pünktlich, dass man an den Schultagen vier Mal die Uhr nach ihren Autofahrten stellen konnte, um acht, um halb eins, um zwei und um halb fünf: vier Mal Vauvert – Longpré hin und zurück in ihrer alten Karre, eine Leerfahrt und eine Fahrt mit einem Haufen Welpen, die sie einsammelte oder an verschiedenen Stellen wieder aussetzte, je nachdem, ob sie nach Longpré fuhr oder von dort zurückkam.
    Ein trauriger Tag, dieser 15. November, an

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