Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
dem sie in der scharfen Kurve auf der Kuppe von Les Galardons, nur zweihundert Meter von zu Hause entfernt, von der Straße abkam, den Hügel hinunterstürzte und in den Weiher gefallen wäre, wenn sie nicht von einer der Pappeln am Ufer abgefangen worden wäre. Gott sei Dank – soweit man das sagen darf – war sie allein im Wagen. Eine Leerfahrt Richtung Schule, kurz vor halb fünf. Niemand konnte sich erklären, wie sie von der Straße hatte abkommen können. Es war ein dunkler Tag, das stimmte, und auf den Höhen lag ein wenig Dunst. Es stimmte auch, dass Anne-Marie sich auf den Landstraßen des Kantons, auf denen sie ständig unterwegs war, sehr sicher fühlte und dass sie gern zügig fuhr. Ein oder zwei Mal hatte sie sich eine Strafpredigt von der Gendarmerie anhören müssen. Aber mehr war nie vorgefallen. Sie war eine ausgezeichnete Autofahrerin, und alle Familien der Gegend vertrauten ihr ihre Sprösslinge bedenkenlos an.
Bei dem Unfall gab es keine Zeugen. Über die Straße vom Haus der Montbruns bis nach Les Galardons dürften täglich nicht mehr als zehn Fahrzeuge fahren, und acht dieser zehn sind Tanklaster der Kellerei Rémy Bonnier auf dem Weg zur Abfüllanlage in Saint-Lair. Soweit die Ermittler herausfinden konnten, war Anne-Marie, statt bis zum Ende der Kehre zu fahren, grundlos mitten in der Kurve von der Straße abgekommen und kopfüber den Hang hinuntergerast, und zwar so, als hätte sie wirklich den Kopf verloren, nämlich mit zunehmender Geschwindigkeit, bis sie gegen die rettende Pappel prallte.
Den Berechnungen zufolge, die dank ihrer Pünktlichkeit durchgeführt werden konnten, hatte sie höchstens eine Viertel stunde lang bewusstlos in ihrem verbeulten Wagen gelegen. Einer der Rémy-Bonnier-Fahrer hatte sie, als er die Straße entlangkam, gesehen und Alarm geschlagen.
In der Schule hatte man sich noch keine Gedanken gemacht. Die Direktorin hatte die kleinen Montbruns sowie Anthony Fabre und Diane Ottaviani, die mit ihnen hätten nach Hause fahren sollen, mit zu sich nach oben in den zweiten Stock genommen und ihnen etwas zu essen gegeben. Während die Kinder, nicht etwa von dunklen Vorahnungen geplagt, sondern von der Direktorin eingeschüchtert, schweigend ihre Brote kauten, wurde die leblose Anne-Marie aus ihrem Fahrzeug gezogen und ins nächste Krankenhaus gebracht.
Es dauerte, bis man Monsieur Montbrun erreichte, der sich zum Zeitpunkt des Unfalls in einem Hubschrauber irgendwo zwischen Port-Arthur und Lagos befand, doch die kleinen Montbruns kamen bei Familie Fabre unter. Arthur Montbrun, immerhin schon neun Jahre alt, ahnte trotz allem, dass es seiner Mutter schlecht ging, und man musste ihn standhaft belügen, sonst wäre er nicht schlafen gegangen.
3
A m Dienstag, dem 22. November, um acht Uhr dreißig, erlitt Maïté einen Schock. In Pantoffeln und dickem Pullover holte Armel die Post aus dem Briefkasten am Gartentor, kehrte ins Haus zurück, befreite Ouest-France aus der Folie und verzog sich damit aufs Sofa in der Kaminecke. Maïté konnte es nicht fassen. In den siebzehn Jahren, die sie nun schon zusammenlebten, hatte Armel an jedem Tag um halb neun, ob es nun ein wenig, ein wenig mehr oder sehr heftig regnete, seine Regenjacke übergezogen, die Tür geöffnet, sich auf der Schwelle noch einmal umgedreht und gesagt: »Bis nachher, Maïté.«
An besagtem 22. November faltete Armel die Zeitung um neun Uhr wieder zusammen und zog jetzt erst – an diesem Dienstag regnete es ganz ordentlich – seine Regenjacke und die Stiefel an, dann öffnete er die Tür, wandte sich um und sagte: »Bis nachher, Chérie .« Maïté fragte sich nach dem Grund für diese Abweichung vom Zeitplan und für dieses schrecklich konventionelle Chérie , doch sie machte sich eigentlich keine Sorgen. So jedenfalls erzählte sie es. Wenn ein von seinen Gewohnheiten Besessener um eine Winzigkeit von diesen Gewohnheiten abweicht, hat er einen Grund dafür, so viel hatte sie in siebzehn Jahren Beziehung gelernt. Am nächsten Tag, dem 23., und am übernächsten, dem 24. November, wurde Maïté noch in ihrer Vermutung bestärkt. Wenn Armel seine Regenjacke nicht mehr um Punkt halb neun, sondern um neun Uhr anzog, wenn er seine Zeitung nicht mehr zwischen halb zehn und zehn las, nämlich nach seinem Spaziergang, sondern vorher, zwischen halb neun und neun, dann wusste er, was er tat, dachte sie sich.
Als sie jedoch am 25. um Viertel nach neun, im Begriff, einkaufen zu gehen, das Wohnzimmer durchquerte und
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