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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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sie schwerfällig und dumm. Gut eingesetzt, ist sie ein kleines Echo, eine anbrandende Welle, die Poesie selbst.
    »Sagen Sie das noch einmal!«, brüllte Armel im selben Augenblick ins Telefon.
    Er hatte schon befürchtet, Maïté würde, weil es ihm schlecht ging, auf die Einkäufe verzichten. Beim Gedanken, Muscheln essen zu müssen, wurde ihm schlecht, aber er hätte jeden ihrer Vorschläge angenommen, um sie dazu zu bewegen, das Haus zu verlassen.
    Sie hatte gezögert, dann war sie gegangen. Er hatte gesehen, wie sie, mit im Wind flatterndem Haar, das Gartentor öffnete und schloss, dann hatte er noch eine Minute gewartet, in der Sorge, sie könne ihr Portemonnaie oder den Schlüssel vergessen haben und deshalb zurückkommen.
    Sie kam nicht zurück. Armel wählte Ivans Nummer und bat dabei, wie ein Kind, irgendwen, wen auch immer: Bitte lass ihn da sein, bitte lass ihn drangehen.
    »Hallo?«, sagte Ivan.
    »Ivan Georg?«, vergewisserte sich Armel.
    »Am Apparat.«
    »Hier ist Ballon. Ballon d’Alsace.«
    »Sie brauchten sich nicht weiter vorzustellen. Ich hatte Sie schon erkannt. Aber irgendwie klingt Ihre Stimme seltsam.«
    »Entschuldigen Sie. Aber ich erlebe auch Seltsames. Hören Sie, Ivan, ich kann jede Minute unterbrochen werden, ich will gleich zur Sache kommen. Ich werde bedroht. Ich überlege schon seit vierundzwanzig Stunden, ob ich Sie anrufen soll. Heute Nacht habe ich bis drei Uhr kein Auge zugetan. Und ich konnte nur einschlafen, weil ich beschlossen habe, meinen Stolz hinunterzuschlucken und Sie anzurufen.«
    »Was ist denn los?«
    »Ich erzähl’s Ihnen. Jeden Morgen mache ich einen Spaziergang, bevor ich mich an die Arbeit setze. Es ist eine uralte feste Gewohnheit. Ich funktioniere wie ein Uhrwerk. Seit Jahren, seit ich in Plouec’h wohne, verlasse ich morgens um halb neun das Haus und mache einen genau einstündigen Marsch, sodass ich um halb zehn wieder zu Hause bin. Dann lese ich Zeitung. Und anschließend setze ich mich an den Schreibtisch. Den wievielten haben wir heute?
    »Den 25.«
    »Stimmt, Freitag, den 25.«
    Armel schwieg so lange, wie man für das Abzählen von sechs Fingern braucht.
    »Vor genau sechs Tagen, am letzten Samstag, bin ich auf meinem Weg zwei jungen Burschen begegnet, die mich zu erwarten schienen. Ich habe zu erwähnen vergessen, dass ich jeden Tag, auch das seit Jahren, denselben Weg gehe. In Plouec’h hat man wenig Auswahl. Im Westen sind der Ort, der Hafen, die Zweibeiner. Im Osten hingegen ist man gleich mitten in der Einsamkeit. Hundert Meter von meinem Haus entfernt beginnt ein kleiner Zöllnerpfad, auf dem man in zwanzig Minuten die Höhe des Steilfelsens erreicht. Es geht steil bergauf, aber man wird für seine Mühen belohnt. Es ist ein außergewöhnlich schöner Blick. Ich habe mich nie daran sattgesehen. Wie immer auch das Wetter ist, oder das Meer – nun gut, Sie wissen ja, das Meer ist immer wieder anders. Es bläst immer ein Wind, der meinen Geist befreit. Da schöpfe ich Energie für den ganzen Tag.
    Inzwischen bin ich versucht zu sagen: Da schöpfte ich Energie. Ich bin nicht sicher, dass ich noch einmal einen Fuß auf den Steilfelsen setze.
    Letzten Samstag komme ich also oben an, so gegen neun Uhr. Morgens bin ich da noch nie jemandem begegnet. Aber Samstag sehe ich zwei Typen im feinen Nieselregen stehen. Reglos. Die in meine Richtung sehen.
    Das regt mich nicht weiter auf. Der Pfad ist sehr schmal an der Stelle, an der sie sich postiert hatten, und der Abgrund sehr nah. Aber es ist auch die Stelle, von der aus man den schönsten Blick hat. Schließlich gehört die Landschaft allen. Ich komme näher. Ich bemerke schon, dass die beiden Burschen mich anstarren und nicht besonders sympathisch wirken. Aber das ist ihre Sache. Ich komme bei ihnen an. Ich sage Guten Tag, wie es auf dem Land üblich ist. Keine Antwort. Ich gehe weiter und denke: Die beiden Typen sind nicht von hier.
    Wahrscheinlich war ich doch nicht so gelassen, wie ich gerade erzählt habe, denn statt, wie sonst, einfach kehrtzumachen und auf demselben Zöllnerpfad nach Hause zu gehen, nehme ich einen weiter im Binnenland gelegenen Weg, durch den etwa fünfhundert Meter von der Küste entfernten Kiefernwald. Auch ein hübscher Weg. Hin und wieder gehe ich auch dort entlang.
    Am nächsten Tag, am Sonntag, hatte ich die Sache zwar nicht vergessen, das kann ich nicht behaupten, aber ich hegte keine Befürchtungen. Am Sonntagmorgen regnete es nicht. Ich mache mich also auf meinen

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