Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
Vom Netzwerk:
Lötkolbens und Dads fleckiges Arbeitsmesser.
    An einem Farbklecks am Messer war Dads Fingerabdruck zu erkennen, und ganz plötzlich wurde ich mir bewusst, wie sehr er hier fehlte. Ich barg mein Gesicht in den Händen und gestattete mir endlich, daran zu denken, wie ich ihn ein paar Stunden zuvor gesehen hatte.
    Niemand hatte mich vom Flughafen Heathrow abgeholt, aber ich hatte Zac ja nicht mal meine Flugzeiten durchgegeben. Ich war sofort ins Krankenhaus gefahren, wo mich eine Schwester in ein kleines Zimmer und dort zum Bett am äußersten Ende geführt hatte.
    Es dauerte einen Moment, ehe ich begriffen hatte, dass die Gestalt in diesem Bett Dad war, mein Dad. Er war so hilflos, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Die Augen hatte er geschlossen. Schläuche, die einer Kanüle in seinem Handrücken entsprangen, waren über seinem Bett befestigt. Unwillkürlich musste ich an die langen Streifen Bleilot denken, die in seiner Werkstatt an Haken aufgehängt waren. Die roten, gleichmäßig pulsierenden Zickzackkurven auf dem Monitor neben seinem Bett waren das einzige erkennbare Lebenszeichen.
    Ich setzte mich auf einen Stuhl neben dem Bett und betrachtete das blasse schlafende Gesicht. »Dad. Daddy«, flüsterte ich. Kein Anzeichen, dass er es gehört hätte. Mit dem Handrücken berührte ich seine Wange. Sie fühlte sich kühl an.
    Ein bisschen ist er wie immer, versuchte ich mir einzureden, um mich zu beruhigen. Sein schütteres graues Haar war wie üblich ordentlich zurückgekämmt; der lange, schmale Kopf mit den hohen Wangenknochen und der Hakennase besaß noch immer dieselbe Würde. Aber seine durchscheinende Haut, der Speicheltropfen auf den grauen Lippen, das zuckende Augenlid, all das ließ mich befürchten, dass ein schreckliches fremdes Wesen Besitz von ihm ergriffen hatte. Und nicht zum ersten Mal in meinem Leben fragte ich mich, wie dieser Mann, mein Vater, eigentlich wirklich war.
    Man sagt, dass man einen Menschen nie ganz und gar kennt, und große Teile des Innenlebens von Edward Morrison waren mir, seinem einzigen Kind, immer verschlossen geblieben. Er war kein böser Mensch, aber häufig distanziert, leicht reizbar, rau und unsensibel. Alles konnte ihn nerven – wenn jemand anrief, während wir gerade beim Essen saßen, wenn ein benachbarter Ladenbesitzer Müll auf dem Gehweg stapelte, obwohl die Müllabfuhr an dem Tag gar nicht kam. Im Laufe des Alters wurde das immer schlimmer, und ich hatte mich oft gefragt, wie Zac damit zurechtkam.
    Jetzt machte Dad einen umso friedlicheren Eindruck. Ich saß neben ihm und wartete auf einen Gefühlsausbruch, auf Tränen. Aber alles, was ich spürte, war Taubheit.
    »Wir glauben, dass er bald wieder zu sich kommt.« Dr. Bashir, der Arzt, der wenig später auftauchte, war ein ruhiger, untersetzter Pakistani mittleren Alters. »Es gibt Anzeichen dafür, dass er allmählich aus dem Koma erwacht. Aber die Untersuchungen deuten auf einen schweren Hirnschlag hin. Wir wissen daher nicht, was sein wird, wenn er aufwacht.«
    »Er ist doch erst einundsechzig«, antwortete ich. »Ist das nicht viel zu jung?«
    Dr. Bashir schüttelte den Kopf. »Leider ist das nicht ungewöhnlich, zumal Ihr Vater an Diabetes Typ I litt. Dazu kam noch der erhöhte Blutdruck.« Seit ich denken konnte, hatte Dad Diabetes gehabt, und ich erinnerte mich an die schlechten Phasen, wenn er sich die Insulinspritze zu spät gesetzt hatte, was zum Glück nur selten passierte. Doch dieser Schlaganfall war unbekanntes Terrain für mich.
    Als Dr. Bashir wieder weg war, schaute ich aus dem Fenster in den klaren Himmel. Wenn Dad aufwachte – und er würde aufwachen, davon war ich überzeugt –, würde er wenigstens das wechselnde Licht sehen können, das er so sehr liebte. Er würde die Vögel sehen und die Wolken, die am Himmel vorüberzogen, die Abendröte, die in die Dunkelheit überging, die funkelnden Sterne und die blinkenden Positionslichter der Flugzeuge.
    Dieser Gedanke tröstete mich, als ich mich flüsternd verabschiedete und seine kühle, leblose Hand streichelte.
    Erst am späten Nachmittag fiel mir der offiziell aussehende Brief wieder ein, den ich auf die Ladentheke gelegt hatte. Ich hatte die Wohnung inspiziert, die aufgeräumt, wenn auch nicht sonderlich sauber war, hatte in meinem alten Zimmer das Bett gemacht, ausgepackt und ein paar Lebensmittel im Supermarkt an der Ecke gekauft. Als ich mit meinen Einkaufstüten zurückkam, fiel mein Blick wieder auf den Brief. Das Wappen, dachte ich, es

Weitere Kostenlose Bücher