Der Zauberberg
frommen Bürgertracht eines verschollenen Jahrhunderts, die ein zugleich gravitätisches {43} und verwegenes Gemeinwesen durch die Zeiten mitgeführt und in pomphaftem Gebrauch erhalten hatte, um zeremoniellerweise die Vergangenheit zur Gegenwart, die Gegenwart zur Vergangenheit zu machen und den steten Zusammenhang der Dinge, die ehrwürdige Sicherheit ihrer Handlungsunterschrift zu bekunden. Senator Castorp stand da in ganzer Figur, auf rötlich gepflastertem Boden, in einer Pfeiler- und Spitzbogen-Perspektive. Er stand, das Kinn gesenkt, den Mund nach unten gezogen, die blauen, sinnig blickenden Augen mit den Tränensäcken darunter ins Weite gerichtet, in dem schwarzen und mehr als knielangen, talarartigen Überrock, der, vorne offen, am Rande und Saume eine breite Pelzverbrämung zeigte. Aus weiten, hochgepufften und bordierten Oberärmeln kamen engere Unterärmel von schlichtem Tuch hervor, und Spitzenmanschetten bedeckten die Hände bis zu den Knöcheln. Die schlanken Greisenbeine staken in schwarzseidenen Strümpfen, die Füße in Schuhen mit silbernen Schnallen. Um den Hals aber lag ihm die breite, gestärkte und vielfach gefältete Tellerkrause, vorn niedergedrückt und an den Seiten aufwärts geschwungen, unter welcher hervor zum Überfluß noch ein gefältetes Batistjabot auf die Weste hing. Unter dem Arme trug er den altertümlichen Hut mit breiter Krempe, dessen Kopf sich nach oben verjüngte.
Es war ein vortreffliches Bild, von namhafter Künstlerhand geschaffen, mit gutem Geschmack in dem altmeisterlichen Stile gehalten, den der Gegenstand nahelegte, und in dem Beschauer allerlei spanisch-niederländisch-spätmittelalterliche Vorstellungen weckend. Der kleine Hans Castorp hatte es oft betrachtet, nicht mit Kunstverstand natürlich, aber doch mit einem gewissen allgemeineren und sogar eindringlichen Verstande; und obgleich er den Großvater so, wie die Leinwand ihn darstellte, in Person nur ein einziges Mal, bei einer feierlichen Auffahrt am Rathaus, und auch da nur flüchtig gesehen hatte, {44} konnte er, wie wir sagten, nicht umhin, diese seine bildhafte Erscheinung als seine eigentliche und wirkliche zu empfinden und in dem Großvater des Alltags sozusagen einen Interims-Großvater, einen behelfsweise und nur unvollkommen angepaßten zu erblicken. Denn das Abweichende und Wunderliche in dieser seiner Alltagserscheinung beruhte offenbar auf solcher unvollkommenen, vielleicht etwas ungeschickten Anpassung, es waren nicht ganz zu tilgende Reste und Andeutungen seiner reinen und wahren Gestalt. So waren die Vatermörder, die hohe weiße Binde altmodisch; aber unmöglich war diese Bezeichnung anwendbar auf das bewunderungswürdige Kleidungsstück, wovon jene nur die Interimsandeutung bildeten, nämlich auf die spanische Krause. Und ebenso verhielt es sich mit dem unüblich geschweiften Zylinder, den der Großvater auf der Straße trug, und dem in höherer Wirklichkeit der breitkrempige Filzhut des Gemäldes entsprach; mit dem langen und faltigen Gehrock, als dessen Urbild und Eigentlichkeit dem kleinen Hans Castorp der bordierte, pelzverbrämte Talar erschien.
So war er denn auch im Herzen einverstanden, daß der Großvater in seiner Richtigkeit und Vollkommenheit prangte, als es eines Tages hieß, Abschied von ihm zu nehmen. Das war im Saale, demselben Saal, wo sie so oft am Eßtisch einander gegenüber gesessen; in seiner Mitte lag Hans Lorenz Castorp nun auf der von Kränzen umstellten und umlagerten Bahre im silberbeschlagenen Sarge. Er hatte die Lungenentzündung durchgekämpft, hatte zäh und lange gekämpft, obgleich er doch, wie es schien, im gegenwärtigen Leben nur anpassungsweise zu Hause gewesen war, und lag nun, man wußte nicht recht ob siegreich oder überwunden, auf jeden Fall mit streng befriedetem Ausdruck und stark verändert und spitznäsig vom Kampfe auf seinem Paradebett, den Unterkörper von einer Decke verhüllt, auf welcher ein Palmzweig lag, den Kopf vom {45} seidenen Kissen hochgestützt, so daß das Kinn aufs schönste in der vorderen Einbuchtung der Ehrenkrause ruhte; und zwischen die halb von den Spitzenmanschetten bedeckten Hände, deren Finger bei künstlich-natürlicher Anordnung Kälte und Unbelebtheit nicht verhehlten, hatte man ihm ein Elfenbeinkreuz gesteckt, auf das er mit gesenkten Lidern unverwandt niederzublicken schien.
Hans Castorp hatte den Großvater zu Anfang von dessen letzter Krankheit wohl mehrmals, gegen das Ende hin aber nicht mehr gesehen. Mit dem
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