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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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des Geistigen, jene pathologisch üppige Wucherung seines Gewebes sich vollzog, die, halb Vergnügen, halb Abwehr, die früheste Vorstufe des Substantiellen, den Übergang des Unstofflichen zum Stofflichen bildete. Das war der Sündenfall. Die zweite Urzeugung, die Geburt des Organischen aus dem Unorganischen, war nur noch eine schlimme Steigerung der Körperlichkeit zum Bewußtsein, wie die Krankheit des Organismus eine rauschhafte Steigerung und ungesittete Überbetonung seiner Körperlichkeit war –: nur noch ein Folgeschritt war das Leben auf dem Abenteuerpfade des unehrbar gewordenen Geistes, Schamwärmereflex der zur Fühlsamkeit geweckten Materie, die für den Erwecker aufnahmelustig gewesen war …
    Die Bücher lagen zuhauf auf dem Lampentischchen, eins lag am Boden, neben dem Liegestuhl, auf der Matte der Loggia, und dasjenige, worin Hans Castorp zuletzt geforscht, lag ihm auf dem Magen und drückte, beschwerte ihm sehr den Atem, doch ohne daß von seiner Hirnrinde an die zuständigen Muskeln Order ergangen wäre, es zu entfernen. Er hatte die Seite hinunter gelesen, sein Kinn hatte die Brust erreicht, die Lider waren ihm über die einfachen blauen Augen gefallen. Er sah das Bild des Lebens, seinen blühenden Gliederbau, die fleischgetragene Schönheit. Sie hatte die Hände aus dem Nacken gelöst, und ihre Arme, die sie öffnete, und an deren Innenseite, na {434} mentlich unter der zarten Haut des Ellbogengelenks, die Gefäße, die beiden Äste der großen Venen, sich bläulich abzeichneten, – diese Arme waren von unaussprechlicher Süßigkeit. Sie neigte sich ihm, neigte sich zu ihm, über ihn, er spürte ihren organischen Duft, spürte den Spitzenstoß ihres Herzens. Heiße Zartheit umschlang seinen Hals, und während er, vergehend vor Lust und Grauen, seine Hände an ihre äußeren Oberarme legte, dorthin, wo die den Triceps überspannende, körnige Haut von wonniger Kühle war, fühlte er auf seinen Lippen die feuchte Ansaugung ihres Kusses.

Totentanz
    Kurz nach Weihnachten starb der Herrenreiter … Aber vorher spielte eben noch Weihnachten sich ab, diese beiden Festtage, oder, wenn man den Tag des heiligen Abends mitzählte, diese drei, denen Hans Castorp mit einigem Schrecken und der kopfschüttelnden Erwartung entgegengesehen hatte, wie sie sich hier wohl ausnehmen würden, und die dann, als natürliche Tage mit Morgen, Mittag, Abend und mittlerer Zufallswitterung (es taute etwas), auch nicht anders, als andere ihrer Gattung, heraufgekommen und verblichen waren: – äußerlich ein wenig geschmückt und ausgezeichnet, hatten sie während der ihnen zugemessenen Frist ihre Bewußtseinsherrschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen geübt und waren unter Zurücklassung eines Niederschlages unalltäglicher Eindrücke zu naher und fernerer Vergangenheit geworden …
    Der Sohn des Hofrates, Knut mit Namen, kam auf Ferienbesuch und wohnte bei seinem Vater im Seitenflügel, – ein hübscher, junger Mann, dem aber ebenfalls schon der Nacken etwas zu sehr heraustrat. Man spürte die Anwesenheit des jungen Behrens in der Atmosphäre; die Damen legten Lachlust, Putzsucht und Reizbarkeit an den Tag, und in ihren Gesprä {435} chen handelte es sich um Begegnungen mit Knut im Garten, im Walde oder im Kurhausviertel. Übrigens erhielt er selbst Besuch: eine Anzahl seiner Universitätskameraden kam in das Tal herauf, sechs oder sieben Studenten, die im Orte wohnten, aber beim Hofrat die Mahlzeiten nahmen und, zum Trupp verbunden, mit ihrem Kommilitonen die Gegend durchstreiften. Hans Castorp mied sie. Er mied diese jungen Leute und wich ihnen mit Joachim aus, wenn es nötig war, unlustig, ihnen zu begegnen. Den Zugehörigen Derer hier oben trennte eine Welt von diesen Sängern, Wanderern und Stöckeschwingern, er wollte von ihnen nichts hören und wissen. Außerdem schienen die meisten von ihnen aus dem Norden zu stammen, womöglich waren Landsleute darunter, und Hans Castorp fühlte die größte Scheu vor Landsleuten, oft erwog er mit Widerwillen die Möglichkeit, daß irgendwelche Hamburger im »Berghof« eintreffen könnten, zumal Behrens gesagt hatte, diese Stadt stelle der Anstalt immer ein stattliches Kontingent. Vielleicht befanden sich welche unter den Schweren und Moribunden, die man nicht sah. Zu sehen war nur ein hohlwangiger Kaufmann, der seit ein paar Wochen am Tische der Iltis saß, und der aus Cuxhaven sein sollte. Hans Castorp freute sich im Hinblick auf ihn, daß man mit

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