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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Auskunft gab. Sie sang:
    »Ich trage meine Minne
    mit mir herum.«
    Der Pianist, der sie begleitete, war ebenfalls ortsansässig … Frau Chauchat saß in der ersten Reihe, benutzte jedoch die Pause, um sich zurückzuziehen, so daß Hans Castorp von da an der Musik (es war Musik unter allen Umständen) mit ruhigem Herzen lauschen konnte, indem er während des Gesanges den Text der Lieder mitlas, der auf dem Programm gedruckt stand. Eine Weile saß Settembrini an seiner Seite, verschwand aber ebenfalls, nachdem er über den dumpfen bel canto der Ansässigen einiges Pralle, Plastische angemerkt und sein satirisches Behagen darüber ausgedrückt, daß man auch heute abend so treu und traulich unter sich sei. Die Wahrheit zu sagen, spürte Hans Castorp Erleichterung, als sie beide fort waren, die Schmaläugige und der Pädagog, und er in Freiheit den Liedern seine Aufmerksamkeit widmen konnte. Er fand es gut, daß in der ganzen Welt und noch unter den besondersten Umständen Musik gemacht wurde, wahrscheinlich sogar auf Polarexpeditionen.
    Der zweite Weihnachtstag unterschied sich durch nichts mehr, als durch das leichte Bewußtsein seiner Gegenwart, von einem gewöhnlichen Sonn- oder auch nur Wochentag, und als er vorüber war, da lag das Weihnachtsfest im Vergangenen, – {441} oder, ebenso richtig, es lag wieder in ferner Zukunft, in jahresferner: zwölf Monate waren nun wieder bis dahin, wo es sich im Kreislauf erneuern würde, – schließlich nur sieben Monate mehr, als Hans Castorp hier schon verbracht hatte.
    Aber gleich nach dem diesjährigen Weihnachten, noch vor Neujahr, starb denn also der Herrenreiter. Die Vettern erfuhren es von Alfreda Schildknecht, genannt Schwester Berta, der Pflegerin des armen Fritz Rotbein, die ihnen das diskrete Vorkommnis auf dem Gange erzählte. Hans Castorp nahm eindringlich Anteil daran, teils weil die Lebensäußerungen des Herrenreiters zu den ersten Eindrücken gehört hatten, die er hier oben empfangen, – zu denen, die zuerst, wie ihm schien, den Wärmereflex in seiner Gesichtshaut hervorgerufen hatten, der seitdem nicht mehr daraus hatte weichen wollen, – teils aus moralischen, man möchte sagen: geistlichen Gründen. Er hielt Joachim lange im Gespräch mit der Diakonissin fest, die Ansprache und Austausch mit klammernder Dankbarkeit genoß. Es sei ein Wunder, sagte sie, daß der Herrenreiter das Fest noch erlebt habe. Längst habe er sich als zäher Kavalier erwiesen gehabt, allein womit er zuletzt noch geatmet, sei keinem begreiflich gewesen. Seit Tagen schon habe er sich freilich nur mit Hilfe gewaltiger Mengen Sauerstoffes gehalten: gestern allein habe er vierzig Ballons konsumiert, das Stück zu sechs Franken. Das müsse ins Geld gelaufen sein, wie die Herren sich ausrechnen könnten, und dabei sei zu bedenken, daß seine Gemahlin, in deren Armen er danach verschieden, völlig mittellos hinterbleibe. Joachim mißbilligte diesen Aufwand. Wozu die Quälerei und kostspielig künstliche Hinfristung in einem ganz aussichtslosen Fall? Dem Mann sei es nicht zu verargen, daß er das teure Lebensgas blindlings verzehrt, da man es ihm aufgenötigt hatte. Dagegen die Behandelnden hätten vernünftiger denken und ihn in Gottes Namen seines unvermeidlichen Weges ziehen lassen sollen, ganz abgesehen von den Verhält {442} nissen und gar nun mit Rücksicht auf diese. Die Lebenden hätten doch auch ein Recht und so weiter. Dem widersprach Hans Castorp mit Nachdruck. Sein Vetter rede ja fast schon wie Settembrini, ohne Achtung und Scheu vor dem Leiden. Der Herrenreiter sei doch am Ende gestorben, da höre der Spaß auf, man könne nichts weiter tun, um seinen Ernst zu erweisen, und einem Sterbenden gebühre jeder Respekt und Ehrenaufwand, darauf bestehe Hans Castorp. Er wolle nur hoffen, daß Behrens den Herrenreiter zuletzt nicht angeschrien und pietätloserweise gescholten habe? Kein Anlaß, erklärte die Schildknecht. Einen kleinen, unbesonnenen Versuch zu entwischen habe der Herrenreiter zwar zuletzt noch gemacht und aus dem Bett springen wollen; aber ein leichter Hinweis auf die Zwecklosigkeit solchen Beginnens habe genügt, ihn ein für allemal davon abstehen zu lassen.
    Hans Castorp nahm den Verblichenen in Augenschein. Er tat es aus Trotz gegen das herrschende System der Verheimlichung, weil er das egoistische Nichts-wissen-, Nichts-sehen-und-hören-wollen der andern verachtete und ihm durch die Tat zu widersprechen wünschte. Bei Tische hatte er den Todesfall zur

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