Der Zauberberg
be {431} schwipsten jungen Adepten von »abnormer« Hautbeschaffenheit, der im Gebiete des Unerlaubten ja nicht mehr all und jeder Erfahrung entbehrte, war das eine nicht nur nicht ungereimte, sondern sogar bis zur Aufdringlichkeit sich nahelegende, höchst einleuchtende Spekulation von logischem Wahrheitsgepräge. Die »Kleinheit« der innerweltlichen Sternkörper wäre ein sehr unsachgemäßer Einwand gewesen, denn der Maßstab von Groß und Klein war spätestens damals abhanden gekommen, als der kosmische Charakter der »kleinsten« Stoffteile sich offenbart hatte, und die Begriffe des Außen und Innen hatten nachgerade gleichfalls in ihrer Standfestigkeit gelitten. Die Welt des Atoms war ein Außen, wie höchstwahrscheinlich der Erdenstern, den wir bewohnten, organisch betrachtet, ein tiefes Innen war. Hatte nicht die träumerische Kühnheit eines Forschers von »Milchstraßentieren« gesprochen, – kosmischen Ungeheuern, deren Fleisch, Bein und Gehirn sich aus Sonnensystemen aufbaute? War dem aber so, wie Hans Castorp dachte, dann fing in dem Augenblick, da man geglaubt hatte, zu Rande gekommen zu sein, das Ganze von vorn an! Dann lag vielleicht im Innersten und Aberinnersten seiner Natur er selbst, der junge Hans Castorp, noch einmal, noch hundertmal, warm eingehüllt, in einer Balkonloge mit Aussicht in die mondhelle Hochgebirgsfrostnacht und studierte mit erstarrten Fingern und heißem Gesicht aus humanistisch-medizinischer Anteilnahme das Körperleben?
Die pathologische Anatomie, von der er einen Band seitlich in den roten Schein seines Tischlämpchens hielt, belehrte ihn durch einen Text, der mit Abbildungen durchsetzt war, über das Wesen der parasitischen Zellvereinigung und der Infektionsgeschwülste. Diese waren Gewebsformen – und zwar besonders üppige Gewebsformen –, hervorgerufen durch das Eindringen fremdartiger Zellen in einen Organismus, der sich für sie aufnahmelustig erwiesen hatte und ihrem Gedeihen auf {432} irgendeine Weise – aber man mußte wohl sagen: auf eine irgendwie liederliche Weise – günstige Bedingungen bot. Weniger, daß der Parasit dem umgebenden Gewebe Nahrung entzogen hätte; aber er erzeugte, indem er, wie jede Zelle, Stoff wechselte, organische Verbindungen, die sich für die Zellen des Wirtsorganismus als erstaunlich giftig, als unweigerlich verderbenbringend erwiesen. Man hatte von einigen Mikroorganismen die Toxine zu isolieren und in konzentriertem Zustande darzustellen verstanden, und es verwunderlich gefunden, in welchen geringen Dosen diese Stoffe, die einfach in die Reihe der Eiweißverbindungen gehörten, in den Kreislauf eines Tieres gebracht, die allergefährlichsten Vergiftungserscheinungen, reißende Verderbnis bewirkten. Das äußere Wesen dieser Korruption war Gewebswucherung, die pathologische Geschwulst, nämlich als Reaktionswirkung der Zellen auf den Reiz, den die zwischen ihnen angesiedelten Bazillen auf sie ausübten. Hirsekorngroße Knötchen bildeten sich, zusammengesetzt aus schleimhautgewebartigen Zellen, zwischen denen oder in denen die Bazillen nisteten, und von welchen einige außerordentlich reich an Protoplasma, riesengroß und von vielen Kernen erfüllt waren. Diese Lustbarkeit aber führte gar bald zum Ruin, denn nun begannen die Kerne der Monstrezellen zu schrumpfen und zu zerfallen, ihr Protoplasma an Gerinnung zugrunde zu gehen; weitere Gewebsteile der Umgebung wurden von der fremden Reizwirkung ergriffen; entzündliche Vorgänge griffen um sich und zogen die angrenzenden Gefäße in Mitleidenschaft; weiße Blutkörperchen wanderten, angelockt von der Unheilsstätte, herzu; das Gerinnungssterben schritt fort; und unterdessen hatten längst die löslichen Bakteriengifte die Nervenzentren berauscht, der Organismus stand in Hochtemperatur, mit wogendem Busen, sozusagen, taumelte er seiner Auflösung entgegen.
So weit die Pathologie, die Lehre von der Krankheit, der {433} Schmerzbetonung des Körpers, die aber,
als
Betonung des Körperlichen, zugleich eine Lustbetonung war, – Krankheit war die unzüchtige Form des Lebens. Und das Leben für sein Teil? War es vielleicht nur eine infektiöse Erkrankung der Materie, – wie das, was man die Urzeugung der Materie nennen durfte, vielleicht nur Krankheit, eine Reizwucherung des Immateriellen war? Der anfänglichste Schritt zum Bösen, zur Lust und zum Tode war zweifellos da anzusetzen, wo, hervorgerufen durch den Kitzel einer unbekannten Infiltration, jene erste Dichtigkeitszunahme
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