Nach dem Applaus: Ein Fall für Berlin und Wien (German Edition)
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Thomas Bernhardt stand mit dem Rücken zum Zimmer. Er starrte aus dem Fenster auf den zugefrorenen, schneebedeckten Lietzensee. Ein paar Jugendliche hatten eine größere Fläche freigeräumt und spielten Eishockey. Er hörte gedämpft das dumpfe Klacken, wenn die Stöcke aneinanderschlugen. Kinder schlitterten auf einer schmalen Eisbahn, die schwarz glänzte. Immer wieder fielen sie hin und purzelten übereinander. Ein paar Mütter standen zusammen und tranken Glühwein, den ein Mann an einem kleinen Stand ausschenkte. Die Schreie und das Rufen der Kinder kamen von weit her, wie aus einer anderen Welt.
Bernhardt ließ seinen Blick schweifen. Wie friedlich alles schien – ganz im Gegensatz zu der Szenerie hinter ihm. Links der Spielplatz vor dem jüdischen Altersheim, ein paar vermummte Gestalten drückten sich in einer Ecke herum, eine Frau schob ein dick eingepacktes Kind auf einer Schaukel immer wieder an. In der Kirche, deren Altarraum mit der großen Glasfront in den Lietzenseepark ragte, brannte Licht. Hunde liefen im Park über die Schneefläche, manche kackten, was ihre Besitzer offensichtlich nicht störte. Hinter den schemenhaft aufragenden Bäumen zog sich in der Waagrechten ein unregelmäßig flackernder Lichterstrom durch den grauen Tag. Die Busse und Autos auf der Neuen Kantstraße.
Er schaltete von Fern- auf Nahblick, von außen nach innen. Noch immer drehte er sich nicht um. Wie in einem dunklen Spiegel zeichnete sich auf dem Fensterglas ab, was er vor wenigen Minuten im hellen Licht, scharf umrissen und in schmerzender Klarheit gesehen hatte: Eine junge Frau, die in einen verrutschten Kimono gehüllt war, lag gekrümmt auf einem weißen Teppich. Eine große Blutlache hatte sich um sie ausgebreitet. Mehrere Gestalten in weißen Kapuzenoveralls sammelten akribisch Spuren. Ein Kollege machte mit einer Kamera eine 3-D-Aufnahme des Raums. Seine Kollegin Cornelia Karsunke sprach mit dem Gerichtsarzt, Kollege Volker Cellarius stand daneben und schrieb in ein kleines Notizbuch.
Thomas Bernhardt drehte sich um. Seine Atemnot, die ihn immer in den ersten Minuten an einem Tatort überfiel, hatte er überwunden. Angst vor dem Ersticken – er kannte das und konnte die aufflammende Panik inzwischen gut im Zaum halten. Diese asthmatische Angst, wie er die Attacke nannte, gehörte einfach dazu. Ganz klar war ihm nicht, was da passierte. Er atmete zu schnell und zu viel ein. War es das? Er war wehrlos gegenüber den Eindrücken, die auf ihn einstürmten, seine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Sein Blick versuchte alles auf einmal zu fassen, jedes Detail zu registrieren und zugleich die Atmosphäre aufzunehmen, den Geist des Ortes zu spüren. Sein Auge wurde zur Kamera, schwenkte den Raum langsam ab und machte eine Vielzahl von Aufnahmen, die er später jederzeit abrufen konnte. Erst wenn der Wahrnehmungsflash vorbei war, konnte er wieder ruhig und gleichmäßig atmen.
In den ersten Momenten einer Untersuchung, quasi mit dem ersten Blick, entschied sich der Verlauf der Ermittlungen, da war er sich sicher. Die Kollegen machten sich gern über sein kurzfristiges Außer-sich-Sein lustig. »Er ist wieder im ›Zustand der Gnade‹«, hatte ein Kollege mal gehöhnt, als Bernhardt wie ein Somnambuler an einem Tatort umhergewandelt war. Jetzt war er wieder bei sich, sah den leuchtend roten Fleck, der sich um den Hals der Toten ausgebreitet hatte, sah das lange Messer, das Fröhlich, der Leiter der Spurensicherung, vorsichtig in eine Plastikhülle gleiten ließ. Er starrte auf die Worte an der Wand. In schwungvollen Schriftzügen stand da: »Der früh Geliebte, nicht mehr Getrübte, er kommt zurück.« Auf den ersten Blick hatte er geglaubt, die Zeilen seien mit dem Blut der Toten geschrieben worden, aber es war weniger dramatisch: Jemand hatte einen dicken Filzstift mit roter Farbe benutzt.
Gegen Mittag war ein Anruf von der Polizeiwache am Kaiserdamm in der Keithstraße bei der Abteilung für Delikte am Menschen eingegangen. In einem Haus am Lietzensee hatte man aus einer Wohnung im vierten Stock laute Musik gehört, Opernarien. Auf das Klopfen der Hausbewohner und der herbeigeholten Polizisten war nicht geöffnet worden. Die Tür wurde schließlich aufgebrochen, in einem Zimmer lag eine Tote auf dem Boden. Erstochen. Mehr wussten sie nicht.
Als Thomas Bernhardt mit Cellarius im Auto über vereiste Straßen zu dem Haus am Lietzensee fuhr, schaltete er das Radio ein – ein Versuch, den neuen Fall noch für
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