Der Zauberberg
dankend, ohne auf die Umstände der Heimat weiter einzugehen. Beunruhigt durch ein unbestimmtes Etwas, von dem er sich nicht zu sagen wußte, ob es von dem Neffen ausging oder etwa in ihm selbst, dem physischen Befinden des Reisenden, seinen Ursprung habe, blickte James umher, ohne von der Hochtallandschaft viel erkennen zu können, und zog tief die Luft ein, die er ausatmend für herrlich erklärte. Gewiß, antwortete der andere, nicht umsonst sei sie ja weit berühmt. Sie habe starke Eigenschaften. Obgleich sie die Allgemeinverbrennung beschleunige, setze der Körper in ihr doch Eiweiß an. Krankheiten, die jeder Mensch latent in sich trage, sei sie zu heilen imstande, doch befördere sie sie zunächst einmal kräftig, bringe sie vermöge eines allgemeinen organischen An- und Auftriebes sozusagen zu festlichem Ausbruch. – Er möge erlauben, – festlich? – Allerdings. Ob jener nie bemerkt habe, daß der Ausbruch einer Krankheit etwas Festliches habe, eine Art Körperlustbarkeit darstelle. – »Gewiß, selbstvers-tändlich«, hastete der Onkel mit unbeherrschtem Unterkiefer und teilte dann mit, daß er acht Tage bleiben könne, das heiße: eine Woche, sieben Tage also, vielleicht auch nur sechs. Da er, wie gesagt, Hans Castorps Aussehen, dank einem Kuraufenthalt, der sich ja über alles Erwarten in die Länge gezogen habe, hervorragend gut und gekräftigt finde, nehme er an, daß der Neffe gleich mit ihm hinunter nach Hause fahren werde.
{648} »Na, na, nur nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand«, sagte Hans Castorp. Onkel James rede recht wie einer von unten. Er solle sich hier bei uns nur erst mal ein bißchen umsehen und einleben, dann werde er seine Ideen schon ändern. Es komme auf restlose Heilung an, die Restlosigkeit sei das Entscheidende, und ein halbes Jahr habe Behrens ihm neulich noch aufgebrummt. Hier redete der Onkel ihn mit »Junge« an und fragte, ob er verrückt sei. »Bist du denn ganz verrückt?« fragte er. Ein Ferienaufenthalt von fünf Vierteljahren sei das nachgerade, und nun noch ein halbes! Man habe in des allmächtigen Gottes Namen doch nicht soviel Zeit! – Da lachte Hans Castorp ruhig und kurz zu den Sternen empor. Ja Zeit! Was nun gerade diese betreffe, die menschliche Zeit, so werde James seine mitgebrachten Begriffe zu allererst revidieren müssen, bevor er hier oben darüber mitrede. – Er werde in Hansens Interesse schon morgen ein ernstes Wörtchen mit dem Herrn Hofrat reden, versprach Tienappel. – »Das tu’!« sagte Hans Castorp. »Er wird dir gefallen. Ein interessanter Charakter, forsch und melancholisch zugleich.« Und dann wies er auf die Lichter von Sanatorium Schatzalp hin und erzählte beiläufig von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinunterbefördere.
Die Herren speisten zusammen im Berghof-Restaurant, nachdem Hans Castorp den Gast in Joachims Zimmer eingeführt und ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich etwas zu erfrischen. Mit H 2 CO sei das Zimmer geräuchert worden, sagte Hans Castorp, – ebenso gründlich, wie wenn nicht wilde Abreise von dort gehalten worden wäre, sondern eine ganz andere, kein exodus, sondern ein exitus. Und da der Onkel sich nach dem Sinn erkundigte: »Jargon!« sagte der Neffe. »Ausdrucksweise!« sagte er. »Joachim ist desertiert, – zur Fahne desertiert, das gibt es auch. Aber mach’, damit du noch warmes Essen bekommst!« Und so saßen sie denn im behaglich erwärmten Restaurant einander gegenüber, an erhöhtem Platz. Die Zwer {649} gin bediente sie hurtig, und James ließ eine Flasche Burgunder kommen, die, in einem Körbchen liegend, aufgestellt wurde. Sie stießen an und ließen sich von der milden Glut durchrinnen. Der Jüngere sprach von dem Leben hier oben im Wandel der Jahreszeiten, von einzelnen Erscheinungen des Speisesaals, vom Pneumothorax, dessen Wesen er erklärte, indem er den Fall des gutmütigen Ferge heranzog und sich über die grasse Natur des Pleura-Choks verbreitete, auch der drei farbigen Ohnmachten gedachte, in die Herr Ferge gefallen sein wollte, der Geruchshalluzination, die beim Chok eine Rolle gespielt und des Gelächters, das er im Abschnappen ausgestoßen. Er bestritt die Kosten der Unterhaltung. James aß und trank stark, wie er es gewohnt war und mit überdies noch durch Reise und Luftwechsel geschärftem Appetit. Dennoch unterbrach er sich zuweilen in der Nahrungsaufnahme, – saß, den Mund voller Speisen, die er zu kauen vergaß, Messer und Gabel im stumpfen Winkel über dem Teller
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