Der Zauberberg
Übernächtigen, Reisefiebrigen, Erschütterten das Genick zitterte, wie ihm beim »Regieren« – »Hans«, sagte er inständig, »komm bald nach!« Dann schwang er sich aufs Trittbrett. Die Tür schlug zu, es pfiff, die Wagen stießen aneinander, die kleine Lokomotive zog an, der Zug entglitt. Der Reisende winkte durchs Fenster mit dem Hut, der Zurückbleibende mit der Hand. Zerwühlten Herzens stand er noch lange, allein. Dann ging er langsam den Weg zurück, den Joachim ihn vor Jahr und Tag geführt.
Abgewiesener Angriff
Das Rad schwang. Der Weiser rückte. Knabenkraut und Akelei waren verblüht, die wilde Nelke ebenfalls. Die tiefblauen Sterne des Enzian, die Herbstzeitlose, blaß und giftig, zeigten sich wieder im feuchten Grase, und über den Waldungen lag es rötlich. Herbstnachtgleiche war vorüber, Allerseelen in Sicht und für geübtere Zeitverbraucher wohl auch der erste Advent, der kürzeste Tag und das Weihnachtsfest. Noch aber reihten sich schöne Oktobertage – Tage von der Art dessen, an dem die Vettern des Hofrats Ölgemälde besichtigt hatten.
Seit Joachims Weggang saß Hans Castorp nicht mehr am Tische der Stöhr, nicht mehr an demjenigen, von dem Dr. Blu {641} menkohl weggestorben war, und an dem Marusja ihre unbegründete Heiterkeit im Apfelsinentüchlein erstickt hatte. Neue Gäste saßen jetzt dort, völlig fremde. Unser Freund aber hatte, zweieinhalb Monate tief in sein zweites Jahr eingerückt, von der Verwaltung einen anderen Platz zugewiesen bekommen, an einem Nachbartische, der schräg vor dem alten stand, weiter gegen die linke Verandatür, zwischen seinem ehemaligen und dem Guten Russentisch, kurzum am Tisch Settembrinis. Ja, an des Humanisten verwaistem Platze saß Hans Castorp jetzt, am Tischende wiederum, gegenüber dem Doktor-Sitz, der an jeder der sieben Tafeln dem Hofrat und seinem Famulus zum Hospitieren aufgespart blieb.
Dort oben, links von dem medizinischen Präsidium, hockte auf mehreren Kissen der bucklige Amateur-Photograph aus Mexiko, dessen Gesichtsausdruck vermöge sprachlicher Einsamkeit der eines Tauben war, und ihm zur Seite hatte das ältliche Fräulein aus Siebenbürgen ihren Platz, das, wie schon Herr Settembrini geklagt hatte, das Interesse aller Welt für ihren Schwager in Anspruch nahm, obgleich niemand etwas von diesem Menschen wußte, noch wissen wollte. Ein Stöckchen mit Tulasilberkrücke, dessen sie sich auch bei ihren Dienstpromenaden bediente, quer im Nacken, sah man sie zu bestimmten Stunden des Tages an der Brüstung ihrer Balkonloge ihre tellerflache Brust in hygienischen Tiefatmungen dehnen. Ein tschechischer Mann saß ihr gegenüber, den man Herr Wenzel nannte, da niemand seinen Familiennamen auszusprechen verstand. Herr Settembrini hatte sich seinerzeit zuweilen darin versucht, die krause Konsonantenfolge hervorzustoßen, aus der dieser Name bestand, – gewiß nicht in ehrlichem Bemühen, sondern nur um die vornehme Hilflosigkeit seiner Latinität an dem wilden Lautgestrüpp heiter zu erproben. Obwohl feist wie ein Dachs und von einer selbst unter Denen hier oben erstaunlich sich hervortuenden Eßlust, ver {642} sicherte der Böhme seit vier Jahren, daß er sterben müsse. Bei der Abendgeselligkeit klimperte er zuweilen auf einer bebänderten Mandoline die Lieder seiner Heimat und erzählte von seiner Zuckerrübenplantage, auf der lauter hübsche Mädchen arbeiteten. Schon in Hans Castorps Nähe folgten dann zu beiden Seiten des Tisches Herr und Frau Magnus, die Bierbrauersehegatten aus Halle. Melancholie umgab dieses Paar atmosphärisch, da beide lebenswichtige Stoffwechselprodukte, Herr Magnus Zucker, Frau Magnus dagegen Eiweiß, verloren. Die Gemütsverfassung, namentlich der bleichen Frau Magnus, schien jedes Einschlages von Hoffnung zu entbehren; Geistesöde ging wie ein kelleriger Hauch von ihr aus, und fast noch ausdrücklicher als die ungebildete Stöhr stellte sie jene Vereinigung von Krankheit und Dummheit dar, an der Hans Castorp, getadelt deswegen von Herrn Settembrini, geistigen Anstoß genommen hatte. Herr Magnus war regeren Sinnes und gesprächiger, wenn auch nur in der Art, die ehemals Settembrinis literarische Ungeduld erregt hatte. Auch neigte er zum Jähzorn und stieß öfters mit Herrn Wenzel aus politischen und sonstigen Anlässen feindlich zusammen. Denn ihn erbitterten die nationalen Aspirationen des Böhmen, der sich überdies zum Antialkoholismus bekannte und über den Erwerbszweig des Brauers moralisch
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