Der Zauderberg
Verantwortung ab und fragen sich: Wer hätte das vorher ahnen können? Wenn Sie eine Situation nicht vorhersehen konnten, dann können Sie natürlich auch nicht verantwortlich gemacht werden, oder? Erinnern Sie sich an Ihren letzten Fall von Aufschieberitis und versuchen Sie, die folgenden Fragen zu beantworten:
• Wussten Sie, dass die Aufgabe so viel Zeit in Anspruch nehmen würde?
• Wussten Sie, dass jede Verzögerung so schmerzhafte Konsequenzen haben würde?
• Konnten Sie absehen, dass Ihnen in letzter Minute etwas dazwischenkommen würde?
Wahrscheinlich wäre die ehrliche Antwort auf alle drei Fragen: Ja, klar, natürlich. Aber es ist schwer, sich diese Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, oder? Und genau das ist das Problem.
Zahlreiche Aufschieber stellen ihre selbstzerstörerische Untätigkeit als wohl überlegte Entscheidung dar. Ist es denn beispielsweise falsch, die Karriere hintanzustellen, um mehr Zeit für die Familie zu haben? Das hängt ganz davon ab, wer Sie sind. Für Workaholics ist alles, was nicht mit der Arbeit zu tun hat, verlorene Zeit, weshalb sie bei Familienfeiern und Theateraufführungen ihrer Kinder fehlen. Andere gehen ganz in der Familie auf und genießen das Zusammensein auf Kosten der Arbeit. Außenstehende können kaum unterscheiden, ob es sich bei einer Entscheidung um einen Fall von Aufschieberitis oder um eine bewusst getroffene Wahl handelt. Das weiß nur der Betroffene selbst.
Insgeheim hoffen viele Aufschieber, dass sie keine Entschuldigung benötigen werden. Sie setzen auf ihr Glück. Das kann durchaus gutgehen. Der Architekt Frank Lloyd Wright entwarf sein Meisterwerk, die Villa Fallingwater, drei Stunden bevor der Investor Edgar Kaufmann kam, um die Zeichnungen zu sehen. In einer panischen nächtlichen Schreiborgie kritzelte Tom Wolfe 49 Seiten für einen Artikel über die kalifornischen Speedcars zusammen, der im Magazin Esquire erscheinen sollte. Der Redakteur Byron Dobell druckte den Text unverändert unter dem Titel »There Goes (Varoom! Varoom!) That Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby«, und ein neuer journalistischer Stil war geboren. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass diese beiden Fälle die Ausnahme sind. Wenn Sie es von vornherein für sinnvoll gehalten hätten, die Arbeit an Ihrem Projekt kurz vor knapp zu erledigen, dann wären Sie ja erst gar nicht in die Situation gekommen, sie vor sich herzuschieben.
Das Profil des Aufschiebers
Vielleicht erleichtert es Sie ja zu erfahren, dass Sie sich als Aufschieber in bester Gesellschaft befinden. Vertagen ist so verbreitet wie die morgendliche Tasse Kaffee. In Dutzenden von Umfragen gestehen 95 Prozent der Teilnehmer, dass sie trödeln, und ein Viertel gibt an, es handele sich um eine chronische und typische Eigenschaft. 3 »Nichts mehr aufschieben« ist eines der wichtigsten Ziele, das Menschen in aller Welt in Umfragen angeben. 4 Die Aufschieberitis ist ein derart verbreitetes Übel, dass sie ihre eigenen Witze hervorgebracht hat. Die vielleicht beste Entschuldigung für eine verpasste Deadline stammt von der Schriftstellerin Dorothy Parker. Als sie von Harold Ross, dem Herausgeber des New Yorker, gefragt wurde, warum sie einen Artikel nicht zum vereinbarten Zeitpunkt abgeliefert hatte, erklärte sie mit traurigem Augenaufschlag: »Jemand hat den Bleistift benutzt.« Und bestimmt kennen Sie den Aufschieberwitz mit dem längsten Bart. Nein? Den erzähle ich Ihnen später.
Kein Berufszweig ist gegen die Aufschieberitis gefeit, aber Schriftsteller scheinen besonders von ihr betroffen zu sein. Agatha Christie war berüchtigt dafür, dass sie keinen Termin hielt, und Margarete Atwood gestand: »Ich bringe oft den ganzen Morgen damit zu, die Arbeit vor mir herzuschieben und mir Sorgen zu machen, um dann gegen fünfzehn Uhr in einen Schreibwahn zu verfallen.« Auch Redakteure von Nachrichtensendungen sind legendäre Aufschieber. Ted Koppel meinte etwa: »Meine Eltern und Lehrer haben sich die Haare ausgerauft, weil ich mit allem bis zur letzten Minute gewartet habe. Heute sind die Leute begeistert.« 5 Im ganzen Alphabet der Berufe bleibt keiner verschont, Astronauten genauso wenig wie Priester, Radiologen oder Zoodirektoren. 6 Bedauerlicherweise sind über alle Branchengrenzen hinweg die Aufschieber häufiger arbeitslos als ihre nicht aufschiebenden Kollegen. Männer sind genauso betroffen wie Frauen, obwohl das Y-Chromosom einen leichten Vorsprung hat. Eine Gruppe aus 100 hartgesottenen
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