Der Zeitdieb
Sie wird sich zusammen mit
meinem Vater in den Ruhestand zurückziehen.«
»Um in einem Haus auf dem Land zu leben? Etwas in der Art?«
»Nicht ganz. Aber etwas Ähnliches.«
Eine Zeit lang blieb es still, abgesehen von den Geräuschen der zwei Besen.
Dann sagte Lobsang: »Soweit ich weiß, ist es üblich, dass der Schüler dem Lehrer ein kleines Geschenk gibt, wenn er seine Ausbildung
beendet.«
»Das geschieht gelegentlich«, entgegnete Lu-Tze und richtete sich auf,
»aber ich brauche nichts. Ich habe meine Matte, meinen Napf und den
Weg.«
»Jeder wünscht sich etwas«, beharrte Lobsang.
»Ha! Da liegst du bei mir falsch, Junge. Ich bin achthundert Jahre alt und habe meine Wünsche schon vor langer Zeit hinter mich gebracht.«
»Meine Güte. Wie schade. Ich hatte gehofft, irgendetwas finden zu können.« Lobsang schwang sich den Besen über die Schulter.
»Wie dem auch sei: Ich muss jetzt los«, sagte er. »Es gibt noch viel zu tun.«
»Bestimmt«, erwiderte Lu-Tze. »Daran zweifle ich nicht. Zum Beispiel der ganze Bereich unter den Bäumen. Und da wir gerade dabei sind,
Wunderknabe: Hat die Hexe ihren Besen zurückbekommen?«
Lobsang nickte. »Sagen wir, dass ich die Dinge… dorthin gebracht
habe, wo sie hingehören. Er ist jetzt viel neuer als vorher.«
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»Ha!«, kommentierte Lu-Tze und fegte Blütenblätter zusammen.
»Einfach so. Auf diese Weise zahlt ein Dieb der Zeit seine Schulden
zurück!«
Offenbar bemerkte Lobsang den Tadel in der Stimme. Er blickte auf
seine Füße hinab. »Nun, vielleicht nicht alle«, gestand er.
»Ach?« Lu-Tze schien noch immer vom Ende seines Besens fasziniert
zu sein.
»Aber wenn man eine ganze Welt retten muss, kann man nicht an eine
einzelne Person denken, denn die eine Person ist Teil der Welt«, fuhr Lobsang fort.
»Glaubst du?«, fragte der Kehrer. »Ich schätze, du hast mit einigen sehr seltsamen Leuten gesprochen, Junge.«
»Aber jetzt habe ich Zeit«, sagte Lobsang ernst. »Und ich hoffe, dass sie verstehen wird.«
»Es ist erstaunlich, was Frauen alles verstehen, wenn man es richtig ausdrückt«, sagte Lu-Tze. »Viel Glück, Junge. Und du weißt ja, dass
geschrieben steht: ›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.‹«
Lobsang lächelte und verschwand.
Lu-Tze fegte weiter. Nach einer Weile schmunzelte er, als er sich an etwas erinnerte. Ein Schüler schenkt dem Lehrer etwas? Als ob sich Lu-Tze etwas wünschte, das ihm Zeit geben konnte…
Dann hielt er inne, sah auf und lachte laut.
An den Bäumen reiften die Kirschen und schwollen an, während er sie
beobachtete.
Tick
An einem Ort, der zuvor nicht existiert hatte und der nur für diesen Zweck existierte, stand ein großer, glänzender Bottich.
»Fünfundvierzigtausend Liter zartes Zuckerwerk, durchsetzt mit
Veilchenessenz und in dunkle Schokolade eingerührt«, sagte Chaos.
»Schichten aus Haselnusspralinen in Buttercreme und weiches Karamell 364
verleihen allem das gewisse köstliche Etwas.«
DU MEINST ALSO, DASS DIESER BOTTICH IRGENDWO IN
EINEM WAHRHAFT UNENDLICHEN ÜBERALL EXISTIEREN
KÖNNTE, UND DESHALB KANN ER HIER EXISTIEREN?,
fragte Tod.
»Ja«, sagte Chaos.
ABER ER EXISTIERT NICHT MEHR DORT, WO ER
EXISTIEREN SOLLTE.
»Nein. Jetzt sollte er hier existieren. Die Mathematik ist ganz einfach«, meinte Chaos.
ACH, MATHEMATIK, sagte Tod wegwerfend. NORMALERWEISE
KOMME ICH NICHT WEITER ALS BIS ZUM SUBTRAHIEREN.
»Außerdem ist Schokolade alles andere als eine seltene Substanz«, fügte Chaos hinzu. »Es gibt Planeten, die ganz davon bedeckt sind.«
WIRKLICH?
»Ja.«
ES WÄRE BESSER, WENN SICH DAS NICHT
HERUMSPRICHT, sagte Tod.
Er schritt dorthin, wo Unity in der Dunkelheit wartete.
DIES IST NICHT NOTWENDIG, teilte er ihr mit.
»Welche andere Möglichkeit gibt es für mich?«, fragte Unity. »Ich habe mein eigenes Volk verraten. Und ich bin vollkommen verrückt. Ich kann nirgends zu Hause sein. Und hier zu bleiben, wäre Agonie.«
Sie starrte in die Schokoladentiefen. Hier und dort glitzerte Zucker auf der Oberfläche.
Sie streifte ihr Kleid ab, wobei sie zu ihrem großen Erstaunen
Verlegenheit empfand. Stolz richtete sie sich auf.
»Löffel«, sagte sie und streckte gebieterisch die rechte Hand aus. Chaos polierte noch einmal eine silberne Schöpfkelle, bevor er sie ihr reichte.
»Auf Wiedersehen«, sagte Unity. »Bitte richte deiner Enkelin meine
besten Grüße aus.«
Sie wich einige Schritte zurück, lief los und
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