Der Zeitdieb
MANHATTAN
3
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Thief of Time« 2001 by Transworld Publishers, London
Umwelthinweis:
Dieses Buches wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die
Einschrumpffolie (zum Schutz vor Verschmutzung) besteht aus
umweltschonender und recyclingfähiger PE-Folie.
2. Auflage
Copyright © 2001 by Terry und Lyn Pratchett
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
www.manhattan-verlag.de
ebook by Monty P.
ISBN 3-442-54528-5
4
Nach der Ersten Schriftrolle des ewig überraschten Wen trat Wen aus der Höhle, in der er Erleuchtung erfuhr, in die Morgendämmerung des
ersten Tags vom Rest seines Lebens. Eine Zeit lang beobachtete er
die aufgehende Sonne, denn er hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Mit der Sandale stieß er seinen dösenden Schüler Tolpatsch an und
sagte: »Ich habe gesehen. Jetzt verstehe ich.«
Dann zögerte er und betrachtete das Etwas neben Tolpatsch.
»Was ist das für ein erstaunliches Ding?«, fragte er.
»Äh… äh… das ist ein Baum, Meister«, erwiderte Tolpatsch, der
noch nicht richtig wach war. »Erinnerst du dich? Er war gestern auch hier.«
»Es gab kein Gestern.«
»Äh… äh… ich glaube doch, Meister«, sagte Tolpatsch und stand mühsam auf. »Weißt du noch? Wir kamen hierher, und ich habe eine
Mahlzeit zubereitet, und ich habe die Rinde von deinem Sklang
gelöst, weil du sie nicht wolltest.«
»Ich erinnere mich an gestern«, murmelte Wen nachdenklich. »Aber die Erinnerung steckt jetzt in meinem Kopf. Existierte das Gestern wirklich? Oder ist nur die Erinnerung daran real? Wahrlich, ich wurde nicht gestern geboren.«
Tolpatschs Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse, die
schmerzliches Unverständnis zum Ausdruck brachte.
»Lieber dummer Tolpatsch, ich habe alles gelernt«, sagte Wen. »In
der hohlen Hand gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft. Es
existiert nur das Jetzt. Es gibt keine andere Zeit als die Gegenwart.
Wir haben viel zu tun.«
Tolpatsch zögerte. Sein Meister hatte etwas Seltsames an sich. In
seinen Augen glühte es, und wenn er sich bewegte, leuchtete die Luft um ihn sonderbar silbrig-blau, als reflektierten flüssige Spiegel.
»Sie hat mir alles gesagt«, fuhr Wen fort. »Ich weiß, dass die Zeit für die Menschen geschaffen wurde, nicht umgekehrt. Ich habe gelernt,
sie zu formen und zu biegen. Ich weiß, wie man einen Moment ewig
währen lassen kann, denn das ist bereits geschehen. Und ich kann
diese Fähigkeiten selbst dir beibringen, Tolpatsch. Ich habe den
Herzschlag des Universums gehört. Ich kenne die Antworten auf viele
Fragen. Frag mich etwas.«
5
Der Schüler sah ihn verschlafen an. Es war zu früh am Morgen, um
früh am Morgen zu sein. Nur das wusste er mit absoluter Gewissheit.
»Äh… was möchte der Meister zum Frühstück?«, fragte er.
Wen blickte von ihrem Lager über die Schneefelder und purpurnen
Berge zum goldenen Tageslicht, das die Welt formte, und dachte
dabei über gewisse Aspekte des menschlichen Wesens nach.
»Ah«, sagte er. »Eine der schweren Fragen.«
Damit etwas existiert, muss es beobachtet werden.
Damit etwas existiert, muss es eine Position in Raum und Zeit haben.
Das erklärt, warum neun Zehntel der Masse des Universums
unbekannt sind.
Neun Zehntel des letzten Zehntels. Jedes Atom hat seine Biographie,
jeder Stern seine Akte, jede chemische Wechselwirkung ihr Äquivalent eines Inspektors mit einem Klemmbrett in der Hand. Sie alle sind
deshalb unbekannt, weil sie für die Verwaltung des Rests zuständig sind, schließlich kann man nicht die Rückseite des eigenen Kopfes sehen.*
Neun Zehntel des Universums bestehen aus Bürokratie.
Und wenn man die Geschichte möchte, so sollte man bedenken, dass
sich eine Geschichte nicht entwickelt, sondern entfaltet. Ereignisse, die sich an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten zutragen, zielen alle auf einen Punkt in der Raum-Zeit, auf den perfekten Moment.
Angenommen, ein Kaiser wird dazu überredet, neue Kleider aus einem
so feinen Stoff zu tragen, dass die Kleidung für das gewöhnliche Auge unsichtbar bleibt. Und angenommen, ein kleiner Junge weist mit lauter, klarer Stimme darauf hin…
Dann hat man eine Geschichte, die man »Des Kaisers neue Kleider«
nennen könnte.
Aber wenn man ein wenig
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