Der Zementgarten
Zeitung oder die Fußballergebnisse gelesen.
»Zement?« sagte der eine. Ich hakte die Daumen in die Hosentaschen ein, verlagerte mein Gewicht auf ein Bein und kniff die Augen etwas zusammen. Ich wollte etwas Knappes und Treffendes sagen, aber ich war nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Ich brauchte zu lange, denn der Mann verdrehte die Augen nach oben, stemmte die Hände in die Hüften und starrte an mir vorbei auf die Haustür. Sie ging auf, und mein Vater trat heraus, an seiner Pfeife kauend, eine Schreibplatte gegen die Hüfte gedrückt.
»Zement«, sagte der Mann wieder, diesmal in sinkendem Tonfall. Mein Vater nickte. Ich steckte das Comic zusammengefaltet hinten in die Tasche und ging den drei Männern auf dem Weg bis zum Lastwagen nach. Mein Vater stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Seitenwand zu schauen, nahm die Pfeife aus dem Mund und nickte nochmals. Der Mann, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte, schlug hart mit der Handkante zu. Ein Stahlbolzen sprang weg und eine Seitenlade des Lastwagens klappte mit großem Lärm herunter. Die prallgefüllten Zementsäcke lagen in zwei Reihen auf der Ladefläche. Mein Vater zählte sie, schaute auf seine Schreibplatte und sagte, »Fünfzehn.« Die zwei Männer brummten. Mir gefiel diese Art Unterhaltung. Ich sagte auch »Fünfzehn« vor mich hin. Die Männer nahmen jeder einen Sack auf die Schulter und wir gingen wieder zurück, diesmal ich voran und mein Vater hinterher. Nach der Hausecke deutete er mit dem nassen Pfeifenstiel auf die Kohlenluke. Die Männer wuchteten ihre Säcke in den Keller und gingen zum Lastwagen, um neue zu holen. Mein Vater machte auf der Schreibplatte ein Kreuz mit dem Bleistift, der an einem Stück Schnur daran baumelte. Er wippte wartend auf den Absätzen. Ich lehnte mich an den Zaun. Ich wußte nicht, wofür der Zement bestimmt war, und wollte aus dieser angespannt arbeitenden Gemeinschaft nicht ausgeschlossen werden durch mein Unwissen. Ich zählte die Säcke mit, und als alle unten waren, stand ich meinem Vater zur Seite, als er den Lieferschein unterschrieb. Dann ging er wortlos ins Haus.
Am Abend stritten sich meine Eltern wegen der Zementsäcke. Meine Mutter, ein ruhiger Mensch, war außer sich. Sie wollte, daß mein Vater das ganze Zeug wieder zurückschickte. Wir waren gerade mit dem Abendessen fertig.
Während meine Mutter redete, nahm mein Vater ein Taschenmesser und schabte damit schwarze Brocken aus dem Pfeifenkopf auf sein Essen, das er kaum angerührt hatte. Er wußte, wie er seine Pfeife gegen sie einsetzen konnte. Sie hielt ihm vor, wie wenig Geld wir hätten und daß Tom bald neue Kleider für den Schulanfang bräuchte. Er steckte die Pfeife wie einen fehlenden Teil seiner Anatomie zwischen die Zähne zurück und unterbrach sie: es komme »nicht in Frage«, die Säcke zurückzuschicken, und damit Schluß. Da ich den Lastwagen, die schweren Säcke und die Männer, die sie gebracht hatten, selbst gesehen hatte, gab ich ihm dem Gefühl nach recht. Aber wie wichtigtuerisch und lächerlich er aussah, als er das Ding aus dem Mund nahm, am Kopf festhielt und den schwarzen Stiel auf meine Mutter richtete. Sie wurde immer wütender, die Stimme erstickte ihr vor Erbitterung. Julie, Sue und ich verzogen uns nach oben in Julies Zimmer und machten die Tür zu. Das Auf und Ab von Mutters Stimme drang durch den Boden zu uns herauf, aber die Worte wurden verschluckt.
Sue lag auf dem Bett und kicherte, die Fingerknöchel im Mund, während Julie einen Stuhl vor die Tür schob. Zusammen zogen wir Sue rasch aus, und als wir ihr die Unterhose herunterstreiften, berührten sich unsere Hände. Sue war ziemlich dünn. Ihre Haut spannte sich straff über den Rippen, und die harte Muskelwölbung ihrer Hinterbacken ähnelte seltsam ihren Schulterblättern. Leichter rötlicher Flaum wuchs zwischen ihren Beinen. Das Spiel ging so, daß Julie und ich Wissenschaftler waren, die ein Lebewesen aus dem Weltraum untersuchten. Wir sprachen mit abgehackten fremdländischen Stimmen und schauten uns dabei über den nackten Körper hinweg an. Von unten kam müde, monoton und beharrlich Mutters Stimme herauf. Julies Backenknochen waren stark vorgewölbt unter den Augen, was ihr den tiefen
Blick eines seltenen, wildlebenden Tieres gab. Im elektrischen Licht waren ihre Augen schwarz und groß. Die sanfte Linie ihres Mundes wurde nur eben von zwei Vorderzähnen unterbrochen, und sie mußte eine Schnute ziehen, um ihr Lächeln zu
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