Der Zementgarten
verboten war. Fünf Tage die Woche hatte sie eine saubere weiße Bluse. Manchmal band sie am Morgen ihr Haar im Nacken mit einem strahlend weißen Band zusammen. Das alles erforderte jeden Abend erhebliche Vorbereitungen. Ich lungerte gewöhnlich herum, sah ihr am Bügelbrett zu und fiel ihr auf die Nerven. Sie war mit einigen Jungen in der Schule befreundet, aber ließ sie nie wirklich an sich heran. Es war eine unausgesprochene Familienregel, daß keiner von uns je Freunde nach Hause brachte. Ihre engsten Freundschaften hatte sie mit Mädchen, den aufsässigsten, die schon einen Ruf hatten. Ich sah sie manchmal in der Schule weit weg am Ende eines Gangs, umgeben von einer kleinen, lärmenden Gruppe. Aber Julie selbst gab wenig von sich preis, sie beherrschte ihre Gruppe und festigte ihr Ansehen durch ihr einschüchterndes, jegliche Unterhaltung sprengendes Schweigen. Ich stand als Julies Bruder in einem gewissen Ansehen in der Schule, aber nie sprach sie dort mit mir oder nahm meine Anwesenheit zur Kenntnis.
Irgendwann in dieser Zeit hatten sich die Pickel auf meinem Gesicht so gründlich eingenistet, daß ich alle festen Regeln der Körperpflege aufgab. Ich wusch mir Gesicht und Haare nicht mehr, noch schnitt ich mir die Nägel oder badete ich. Ich hörte auf, mir die Zähne zu putzen. In ihrer ruhigen Art tadelte mich meine Mutter dafür fortgesetzt, aber ich fühlte mich mit Stolz ihrer Aufsicht entwachsen. Wenn mich jemand wirklich mochte, war mein Argument, dann würde er mich auch akzeptieren, wie ich war. Frühmorgens kam meine Mutter in mein Schlafzimmer und wechselte meine schmutzigen Kleider gegen saubere aus. An den Wochenenden lag ich bis nachmittags im Bett und machte dann lange, einsame Spaziergänge. Abends sah ich Julie zu, hörte Radio, oder saß einfach so da. Ich war mit niemand in der Schule eng befreundet.
Ich starrte mich oft in Spiegeln an, manchmal eine ganze Stunde lang. Eines Morgens, kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, suchte ich in der Düsternis unserer riesigen Diele nach meinen Schuhen, als ich mich in einem mannshohen Spiegel erblickte, der an der Wand lehnte. Mein Vater hatte ihn immer einmal festdübeln wollen. Buntes Licht aus dem farbigen Glas über der Haustür beleuchtete von hinten einzelne Strähnen meines Haares. Das gelbliche Halbdunkel verdeckte die Höcker und Krater auf meiner Haut. Ich kam mir edel und einzigartig vor. Ich starrte mein eigenes Bild an, bis es anfing, sich von mir zu lösen und mich mit seinem Blick zu lähmen. Es wich zurück und kehrte wieder mit jedem Schlag meines Herzens, und eine dunkle Aura pulsierte über seinem Kopf und seinen Schultern. »Stark«, sagte es zu mir. »Stark.« Und dann lauter, »Scheiße... Pisse... Arsch.« Aus der Küche rief mich meine Mutter müde mahnend.
Ich nahm mir einen Apfel aus einer Obstschale und ging in die Küche. Ich lümmelte mich gegen den Türrahmen, schaute der Familie beim Frühstück zu, warf den Apfel hoch und ließ ihn dann hart auf meiner Handfläche aufklatschen. Julie und Sue aßen in Schulbücher vertieft. Meine Mutter, ausgelaugt von einer weiteren schlaflosen Nacht, aß nichts. Ihre eingesunkenen Augen waren grau und wäßrig. Greinend vor Erbitterung versuchte Tom, seinen Stuhl näher an den ihren zu schieben. Er wollte bei ihr auf dem Schoß sitzen, aber sie klagte, er sei ihr zu schwer. Sie rückte ihm den Stuhl zurecht und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
Es ging darum, ob Julie mit mir zur Schule gehen würde; wir waren früher jeden Morgen zusammen gegangen, aber jetzt wollte sie lieber nicht mehr mit mir gesehen werden. Ich spielte weiter mit dem Apfel und bildete mir ein, sie würden nervös davon. Mutter sah mir unbeirrt zu.
»Komm jetzt, Julie«, sagte ich schließlich. Julie goß sich Tee nach.
»Ich habe noch zu tun«, sagte sie nachdrücklich. »Geh du schon.«
»Und wie ist es mit dir, Sue?« Meine jüngere Schwester schaute aus dem Buch nicht auf. »Ich geh später.«
Meine Mutter mahnte mich sanft, daß ich noch nicht gefrühstückt hätte, aber da war ich schon halb durch die Diele. Ich knallte die Haustür zu und ging über die Straße. Früher hatten an unserer Straße lauter Häuser gestanden. Jetzt stand unser Haus auf freiem Gelände, wo Brennesseln zwischen Wellblechfetzen wuchsen. Die übrigen Häuser hatte man für eine Stadtautobahn abgerissen, die dann nie gebaut wurde. Manchmal kamen Kinder von den Hochhäusern und spielten bei unserem Haus, aber
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