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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Meter hinter ihr. So wie er dreinschaute, war mir klar, daß es schon wieder eine Szene gebraucht hatte, um ihn aus dem Haus zu bekommen. Mit Sue fühlte ich mich unbeschwerter. Sie war zwei Jahre jünger als ich, und falls sie Geheimnisse hatte, fühlte ich mich davon wenigstens nicht eingeschüchtert. Einmal entdeckte ich in ihrem Zimmer eine Tinktur, mit der sie ihre Sommersprossen »auflösen« wollte. Sie hatte ein langes, zartes Gesicht, farblose Lippen und kleine, müde blickende Augen mit blonden, fast unsichtbaren Wimpern. Mit ihrer hohen Stirn und ihren struppigen Haaren sah sie manchmal wirklich wie ein Mädchen von einem anderen Stern aus. Wir blieben nicht stehen, aber als wir aneinander vorbeigingen, blickte Sue vom Buch auf und sagte, »Du kommst zu spät.« Und ich murmelte, »Was vergessen.« Tom war ganz mit seiner Schulangst beschäftigt und bemerkte mich nicht. Als mir klarwurde, daß Sue ihn zur Schule brachte, um Mutter den Weg zu ersparen, hatte ich noch mehr Schuldgefühle und ging schneller.
    Ich ging seitlich um das Haus in den hinteren Garten und beobachtete meine Mutter durch ein Küchenfenster. Sie saß am Tisch vor dem Durcheinander von unserem Frühstück und vier leeren Stühlen. Direkt vor ihr stand meine unberührte Schüssel Porridge. Ihre eine Hand lag im Schoß, die andere hielt sie auf dem Tisch, den Arm angewinkelt, als wollte sie gleich ihren Kopf darauf legen. Neben ihr stand eine gedrungene schwarze Flasche mit ihren Pillen. In ihrem Gesicht vermischten sich Julies Züge mit denen von Sue, als wäre sie ein Kind der beiden. Ihre Haut lag glatt und straff über ihren feinen Backenknochen. Allmorgendlich malte sie ihren Lippen einen vollendeten Bogen von tiefstem Rot auf. Aber ihre Augen, die in dunkler, wie ein Pfirsichkern runzliger Haut saßen, waren so weit in ihren Schädel gesunken, daß sie wie aus einem tiefen Brunnen zu blicken schien. Sie strich sich über die dichten, dunklen Locken am Hinterkopf. Manchmal fand ich morgens ein Büschel ihrer ausgekämmten Haare in der Kloschüssel schwimmen. Ich spülte es immer zuerst hinunter. Jetzt stand sie auf und fing an, mit dem Rücken zu mir den Tisch abzuräumen.
    Als ich acht Jahre alt war, kam ich an einem Morgen von der Schule heim und tat so, als wäre ich ernstlich krank. Meine Mutter machte das Spiel nachsichtig mit. Sie zog mir meinen
    Schlafanzug an, trug mich auf das Sofa im Wohnzimmer und
    wickelte mich in eine Decke. Sie wußte, daß ich
    heimgekommen war, um sie für mich in Beschlag zu nehmen, solang mein Vater und meine zwei Schwestern außer Haus waren. Vielleicht war sie froh, jemand tagsüber bei sich zu haben. Bis zum späten Nachmittag lag ich da, sah ihr bei ihrer Arbeit zu, und lauschte angestrengt, wenn sie sich in einem
    andern Teil des Hauses aufhielt. Ich staunte über die
    offensichtliche Tatsache, daß sie auch unabhängig von mir existierte. Sie machte weiter, auch wenn ich fort in der Schule war. Alles das hier tat sie. Jeder machte weiter. Damals war diese Einsicht bemerkenswert, aber nicht schmerzlich gewesen. Nun, als ich ihr zusah, wie sie sich bückte, um Eierschalen vom Tisch in den Abfalleimer zu fegen, löste bei mir dieselbe einfache Erkenntnis Trauer und Bedrohung aus in einer unerträglichen Verkoppelung. Mutter war nicht meine eigene Erfindung, noch die meiner Schwestern, obwohl ich sie weiterhin erfand und nicht wahrnahm. Als sie eine leere Milchflasche wegstellte, wandte sie sich plötzlich zum Fenster. Ich trat schnell zurück. Als ich den Seitenweg entlanglief, hörte ich, wie sie die Hintertür öffnete und mich beim Namen rief. Ich erhaschte einen Blick auf sie, als sie um die Hausecke kam. Sie rief mir weiter nach, als ich mich auf der Straße davonmachte.
    Ich rannte den ganzen Weg und meinte über dem Lärm meiner Schuhe auf dem Pflaster ihre Stimme zu hören.
    »Jack. Jack.«
    Ich holte meine Schwester Sue ein in dem Augenblick, als sie in das Schultor einbog.
      
      
3
    Ich wußte, es war morgens, und ich wußte, es war ein schlechter Traum. Wenn ich mich zusammennahm, würde ich mich aufwecken können. Ich versuchte die Beine zu bewegen, mit einem Fuß den andern zu berühren. Schon eine leichte Empfindung wäre genug, um mich in der Welt außerhalb meines Traums durchzusetzen. Ich wurde verfolgt, doch ich konnte nicht sehen, von wem. Sie hatten ein Kästchen in der Hand und wollten, daß ich hineinsähe, aber ich ging schnell weiter. Ich verharrte einen Moment und

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