Der Ziegenchor
wählen. Das verstehe ich einfach nicht. Das ist fast so, als ob dieser Dreckskerl dadurch, daß man ihn zur Sau gemacht hat, nur noch beliebter wird.«
»Vielleicht ist das wirklich so«, entgegnete mein Onkel. »Möglicherweise verschaffst du den Zuschauern durch deine Werke lediglich eine Möglichkeit, ihren alltäglichen Ärger abzulassen. Wenn die Theaterbesucher diese Möglichkeit nicht hätten, würden sie vielleicht auch nicht in so großer Zahl für Perikles stimmen.«
»Und überhaupt… solange du einen Preis dafür gewinnst, kratzt dich das doch bestimmt nicht, oder?« mischte sich einer der anderen Gäste ein; ein Nachbar meines Onkels namens Anaxander.
Zunächst brachte Kratinos vor Wut kein Wort heraus, dann schnauzte er Anaxander an: »Für wen hältst du mich eigentlich, verdammt noch mal? Ich gäbe für sämtliche Preise, die jemals verliehen wurden, nicht mal einen toten Frosch her. Was glaubst du eigentlich, was ich um Himmels willen vom Leben erwarte?«
»Nun mach mal halblang!« warf Anaxander in heiterem Ton ein. »Das sind doch alles nur Scheingefechte für die Zuschauer. Schließlich ist allgemein bekannt, daß der Dichter und die Politiker, gleich nachdem der Chor von der Bühne verschwunden ist, zum gemeinsamen Besäufnis aufbrechen. Deshalb gibt es doch immer am Tag nach den Festspielen überall auf den Straßen diese eigenartig gefärbten Kotzlachen. Ich wette fünfzig Drachmen, daß du überhaupt nichts mehr mit dir anzufangen wüßtest, wenn Perikles morgen sterben würde. Er ist dein Ernährer, und du bist ihm sein liebster Helfershelfer.«
Kratinos Gesicht nahm dieselbe dunkle Farbe wie der Rotwein an, und er brummelte irgendwelche Verwünschungen vor sich hin, die mir ziemliche Angst einjagten, aber mein Onkel lächelte nur.
»Genau solch einen Blödsinn habe ich von einem Wähler erwartet!« fluchte Kratinos schließlich, nachdem er es endlich geschafft hatte, seine Wut zu zügeln. »Ich wette fünfzig Drachmen, daß du bei der letzten Wahl für diesen blöden Hund gestimmt hast. Na, was ist? Habe ich recht?«
»Das habe ich allerdings«, antwortete Anaxander bestimmt. »Na und?«
Kratinos beugte sich vor und spuckte in Anaxanders Weinkelch. »Jetzt sind wir quitt«, sagte er. »Erst hast du mir die Stimmung versaut, und jetzt kommst du auch nicht mehr so leicht in Stimmung.«
Anaxander fand das überhaupt nicht lustig, und mein Onkel runzelte besorgt die Stirn.
In diesem Moment kam mir der Gedanke, daß ich vielleicht die Situation retten könnte. Also räusperte ich mich schüchtern und fragte: »Aber ist das, was Anaxander gesagt hat, nicht bis zu einem gewissen Punkt richtig? Dreht sich denn letzten Endes nicht alles nur darum, den Preis zu gewinnen oder wenigstens ein gutes Stück zu schreiben? Schließlich wird ein Stück nicht weniger gut, nur weil das Publikum den Sinn nicht verstanden hat.«
Kratinos wandte sich mir mit bösem Gesicht zu. »Dieser Junge ist wohl doch nicht so vernünftig, wie ich vermutet habe«, stellte er fest. »Wenn ich gute Stücke schreiben wollte, wäre ich Tragödiendichter geworden. Dann würde mich die feine Gesellschaft bei ihren Festen wahrscheinlich auch nicht so oft vor die Tür setzen. Wenn ich nur gute Jamben schreiben wollte, schlüge ich mich doch nicht mit Komödien herum, das ist nämlich größtenteils harte Arbeit. Dann könnte ich auch Werke über Ödipus oder so etwas wie Sieben gegen Theben und diesen ganzen Schund schreiben und damit sämtliche Preise der Welt absahnen. Niemand hätte auch nur die leiseste Ahnung, worum es mir dabei überhaupt ginge, und ich selbst erst recht nicht. Jetzt spitzt du mal die Ohren, und ich sage dir was: Falls du jemals Komödiendichter werden willst – und ich hoffe, die Götter haben ein Einsehen mit dir, daß du das nicht wirst, das ist nämlich ein wirklich elendes Leben, das kann ich dir flüstern –, dann such dir irgendein Feindbild, und haß diesen Menschen mit aller Kraft. Für mich ist das ganz einfach. Schließlich habe ich Perikles, und den hasse ich wirklich. Das ist der Grund, warum ich bessere Komödien als alle anderen schreibe. Aber du bist noch jung. Du haßt wahrscheinlich niemanden so sehr, daß du den Wunsch verspürst, seine noch warmen Eingeweide direkt vom Fleischerhaken zu fressen. In dem Fall mußt du dir den Haß auf deinen Feind also einbilden. Mal dir vor deinem geistigen Auge aus, wie er deinen Vater umbringt, deine Mutter vergewaltigt, in deinen Brunnen
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