Der Ziegenchor
Stadt nur wenig zu tun. So habe ich meine frühe Kindheit nicht in der Gesellschaft großer Männer verbracht, sondern hauptsächlich in der Gesellschaft von Ziegen. Mein Vater war einigermaßen wohlhabend, und einen nicht unerheblichen Anteil an seinem Vermögen hatte eine Herde widerstandsfähiger, aber nicht ganz einfacher Ziegen, auf die man ständig aufpassen mußte. Zwar ist Ziegenhüten nicht schwierig, allerdings ist es auch nicht gerade eine besonders aufregende und angenehme Tätigkeit. Als ich gerade alt genug war, um außerhalb des Hauses allein zurechtzukommen, wurde ich wegen der geringen Anforderungen, die diese Arbeit stellte, zum obersten Ziegenhirten ernannt und trieb von nun an die Herde auf die Berghänge des Hymettos.
Obwohl ich Ziegen nie mochte (und immer noch nicht mag), zog ich die Tätigkeit als Hirte einer schulischen Ausbildung vor und entwickelte auf diesem Gebiet schon bald ein solches Geschick, wie man es von einem kleinen Jungen kaum erwarten konnte. Pallene liegt zwischen zwei Gebirgsketten, so daß nicht weit von meinem Elternhaus ausreichend Weideland für die Herde zur Verfügung stand. Da sich die Tiere außerdem im allgemeinen recht zahm verhielten, konnte ich fast die gesamte Zeit, die ich als Ziegenhirte verbrachte, meiner schon damals größten Leidenschaft und Hauptbeschäftigung widmen, nämlich dem Verfassen jambischer Verse.
Zuerst schrieb ich Tragödien, zumal bei uns zu Hause und in der Stadt hauptsächlich Tragödien vorgetragen wurden, insbesondere die Werke des berühmten Aischylos. Die meisten Leute konnten wenigstens ein paar Passagen aus den Stücken dieses großen Dichters auswendig, und ein alter Mann, der seinen Lebensunterhalt größtenteils dadurch bestritt, von anderen Leuten eingeladen zu werden und zum Essen zu bleiben, behauptete sogar, sämtliche neunzig Stücke zu kennen. Er sei (so erzählte er) einst Mitglied der staatlichen Schauspielertruppe gewesen und besaß wirklich eine schöne Vortragsstimme, die ich mir stets in Gedanken vorstellte, wenn ich herausfinden wollte, ob eine von mir verfaßte Zeile auch noch beim lauten Aufsagen gut klingen würde.
Doch schon bald gab ich es auf, Tragödien zu dichten, denn die schier endlose Flut vielsilbiger zusammengesetzter Wörter und obskurer bildhafter Ausdrücke, die den erhabenen Tragödienstil ausmachen, erschien mir nicht nur schwierig, sondern auch ziemlich albern. Kaum hatte ich zum erstenmal eine Komödie gesehen – die einen solchen Eindruck bei mir hinterließ, daß ich mich heute nicht einmal mehr daran erinnern kann, von wem sie war und worum es überhaupt ging –, entschloß ich mich, nur noch Komödien zu schreiben, und dieses Versprechen habe ich bis auf eine Ausnahme, von der ich Ihnen zu gegebener Zeit berichten werde, mein ganzes Leben lang gehalten. Schließlich ist der Komödienstil eng an die sprachlichen Umgangsformen ganz normaler Menschen angelehnt, so daß man einem Komödiendichter kein größeres Kompliment machen kann, als ihm zu sagen, man habe gar nicht gemerkt, daß seine Gestalten in Versform gesprochen hätten. Ich behaupte sogar, Komödien sind in Wirklichkeit viel schwerer zu schreiben als Tragödien (was mir natürlich niemand glaubt), weil die Tragödie eine ganz eigene Sprache hat, die ausdrücklich zum Verfassen von Theaterstücken geschaffen wurde, wohingegen die Alltagssprache, der sich die Komödie bedient, nie dazu bestimmt war, in eine Zeile aus Jamben gezwängt und durch Zäsuren in klare Abschnitte unterteilt zu werden. Zum Glück hatte ich von Geburt an den Bogen raus, und meine Mutter behauptete immer, ich hätte schon von klein auf in Versform gesprochen. Aus dem Munde meiner Mutter war das allerdings nicht unbedingt als Kompliment zu verstehen, denn sie stammte aus einer relativ unbedeutenden Politikerfamilie und war dazu erzogen worden, Satiriker zu verachten.
Mit neun Jahren fing ich dann an, den Ziegen und Dornbäumen kindliche Pambasen und Stichomythien vorzusingen. Da ich die Kunst des Schreibens auf Wachstafeln oder ägyptischem Papyros zu jener Zeit noch nicht erlernt hatte, behielt ich die Zeilen, wenn sie erst einmal fertig waren, einfach im Kopf. Schließlich müssen Schauspieler ihre Rollen ja auch auswendig lernen, und wenn sich nicht einmal der Autor den Text seines eigenen Stücks merken kann, was sollte er dann schon von anderen erwarten dürfen?
Als ich elf Jahre alt war, hatte ich mich bereits an das Verfassen von Chortexten gemacht –
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