Der Zimmerspringbrunnen
Vormittag. Es war jetzt halb acht. Sollte es in Julias Leben noch Überreste irgendeiner Ordnung geben, so war es absolut unvorstellbar, daß sie diesen jahrzehntelang feststehenden Termin – über dessen Einhaltung es oft genug zwischen uns zum Streit gekommen war – vergessen haben könnte: Erster Weihnachtsfeiertag, Gänsebraten bei Julias Mutter (»bei Mutti«) in Magdeburg …
Starker Ausreiseverkehr an diesem Vormittag! Es war einfach schwierig, die Übersicht zu behalten. Vorsorglichentschloß ich mich, Freitag von der Leine loszumachen. So konnte er gegebenenfalls selbst die Ausreißerin stellen.
Die Frühzüge (7.48 Uhr, 8.37 Uhr, 9.07 Uhr und 9.48 Uhr) rollten uns ergebnislos davon. Danach gab es eine längere Pause – der Zug 10.37 Uhr verkehrte am 25. 12. nicht. Meine letzte Hoffnung ruhte jetzt auf dem IC 503! Der ging 11.07 Uhr – da wäre Julia 12.27 Uhr in Magdeburg, das könnte sie schaffen, vom Bahnhof bis zu Julias Mutter war es ja nicht weit, eine Viertelstunde vielleicht, höchstens …
Auch diesen Zug, meine letzte Hoffnung, hatte ich schließlich fahren lassen müssen!
Verlassen standen Freitag und ich, nebst weggeworfenen Werbebeilagen und zerdrückten Fanta-Büchsen, auf dem leeren Bahnsteig. Langsam stiegen wir die Treppe zur Haupthalle hinunter. Das einzige, an das ich mich nun noch klammern konnte, war die verschwundene BahnCard. Und die Reisetasche! Gut, Julia war mir möglicherweise entwischt. Aber da mußte sie eines Tages ja auch wiederkommen. Natürlich, sie kommt wieder …
»Die da vielleicht!?« johlten die andern, als sie mich sahen. Sie zeigten auf eine junge Frau, die den Wagenstandsanzeiger studierte.
Freitag knurrte, ich schwieg. Ich bereute es, ihnen überhaupt etwas gesagt zu haben. Auch an den folgenden Tagen zogen sie mich immer wieder damit auf: »Na, hast’e schon deine Traumfrau jefunden?« Auch gefiel mir nicht, daß sie mich nach wie vor »Vertriebsleiter« nannten, obwohl ich ihnen schon mehrfach meinen richtigen Namen gesagt hatte. Außerdem war ich ja im Urlaub! Aber da lachten sie bloß unverschämt.
Nur mit Mario ging es besser. Schließlich ging der einer geregelten Beschäftigung nach, da hatte er gar keine Zeit, sich dumme Gedanken zu machen, sich das Maul über andere zu zerreißen.
Seine Hose hatte er mir als Dauerleihgabe überlassen. Das war gut, als Tarnkleidung. Sie war am linken Knie etwas eingerissen und unten, an den Hosenbeinen, ausgefranst. Auch mein Gesicht war jetzt ganz unter einem Bart verschwunden.
Sicher, es wäre zuviel gesagt, wenn ich behaupten würde, daß der Bahnhof ein zweites Zuhause für mich geworden wäre. Allmählich aber gewöhnte ich mich an das Bahnhofsleben. Ich kannte die Stellen, wo es am wärmsten war, wo es nachts am wenigsten Zugluft gab. Kamen Polizisten, spielte ich die Rolle des Wartenden. Aber, das mußte ich nicht spielen – ich wartete ja wirklich! Also ließ ich die Kontrollen nachsichtig über mich ergehen.
So gingen die Tage dahin, ohne daß sich Besonderes ereignet hätte. So ging das Jahr zu Ende.
Am Silvesterabend saßen Mario und ich in einer Ecke. Draußen böllerte und knallte es. Jahresende, Zeit für gute Vorsätze. Ich dachte an eine Person mit J.
Die Glocken der Gedächtniskirche schlugen zwölfmal.
Ich wartete den letzten Schlag ab, ließ noch einen Moment verstreichen, dann sagte ich zu Mario: »Im nächsten Jahr gewöhne ich mir das Rauchen ab.«
»Na, mal sehen«, sagte Mario grinsend.
Ich zog langsam meine Zigarettenschachtel aus der Manteltasche, nahm eine Zigarette heraus, hielt sie hoch ins Licht, betrachtete sie von allen Seiten – und zündete sie mir feierlich an.
Mario sah mich groß an. Mit der Hand machte er eine Scheibenwischerbewegung vor seiner Stirn.
Ich blies ihm den Rauch entgegen – »Im nächsten hatte ich gesagt. Du mußt schon zuhören, mein Freund.«
Wir tranken noch einen kleinen Versöhnungsschluck, worauf wir uns dann aber bald schlafen setzten.
Am Neujahrsmorgen erwachte ich zeitig. Mario schlief noch. Ich zog ihm die heruntergerutschte Decke über die Schulter. Dann packte ich meinen Kram.
Auf dem Bahnhofsvorplatz war es eiskalt.
Drüben, im Osten, ließ sich schüchtern die Sonne blicken. Daß die sich das überhaupt noch traute … Immerhin, sie war schamrot!
Ich zog Freitag an der Leine. »Na, los, komm schon!«
Komm.
Das Buch
Hinrich Lobek, seit drei Jahren abgewickelter Angestellter der Ostberliner Kommunalen
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