Wilhelm Tell
ERSTER AUFZUG
ERSTE SCENE
Hohes Felsenufer des Vierwaldstättensees, Schwytz gegenüber. Der See macht eine Bucht ins Land, eine Hütte ist unweit dem
Ufer, Fischerknabe fährt sich in einem Kahn. Ueber den See hinweg sieht man die grünen Matten, Dörfer und Höfe von Schwytz
im hellen Sonnenschein liegen. Zur linken des Zuschauers zeigen sich die Spitzen des Haken, mit Wolken umgeben; zur rechten
im fernen Hintergrund sieht man die Eisgebirge. Noch ehe der Vorhang aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmonische Geläut
der Heerdenglocken, welches sich auch bei eröfneter Scene noch eine Zeitlang fortsezt.
FISCHERKNABE
singt im Kahn
(Melodie des Kuhreihens)
Es lächelt der See, er ladet zum Bade,
Der Knabe schlief ein am grünen Gestade,
Da hört er ein Klingen,
Wie Flöten so süß,
Wie Stimmen der Engel
Im Paradieß.
|2| Und wie er erwachet in seliger Lust,
Da spühlen die Wasser ihm um die Brust,
Und es ruft aus den Tiefen:
Lieb Knabe, bist mein!
Ich locke den Schläfer,
Ich zieh ihn herein.
Hirte
(auf dem Berge)
(Variation des Kuhreihens)
Ihr Matten lebt wohl,
Ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muß scheiden,
Der Sommer ist hin.
Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder,
Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder,
Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen May.
Ihr Matten lebt wohl,
Ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muß scheiden,
Der Sommer ist hin.
|3| Alpenjäger
(erscheint gegenüber auf der Höhe des Felsen)
(Zweite Variation)
Es donnern die Höhen, es zittert der Steg,
Nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg,
Er schreitet verwegen
Auf Feldern von Eis,
Da pranget kein Frühling,
Da grünet kein Reis;
Und unter den Füssen ein neblichtes Meer,
Erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr,
Durch den Riß nur der Wolken
Erblickt er die Welt,
Tief unter den Wassern
Das grünende Feld.
(Die Landschaft verändert sich, man hört ein dumpfes Krachen von den Bergen, Schatten von Wolken laufen über die Gegend) Ruodi
der Fischer kommt aus der Hütte, Werni der Jäger steigt vom Felsen, Kuoni der Hirte kommt, mit dem Melknapf auf der Schulter.
Seppi sein Handbube, folgt ihm)
|4| RUODI
Mach hurtig Jenny. Zieh die Naue ein.
Der graue Thalvogt kommt, dumpf brüllt der Firn,
Der Mytenstein zieht seine Haube an,
Und kalt her bläßt es aus dem Wetterloch,
Der Sturm, ich meyn’, wird da seyn, eh’ wirs denken.
KUONI
’s kommt Regen, Fährmann. Meine Schaafe fressen
Mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde.
WERNI
Die Fische springen, und das Wasserhuhn
Taucht unter. Ein Gewitter ist im Anzug.
KUONI
(zum Buben)
Lug’ Seppi, ob das Vieh sich nicht verlaufen.
SEPPI
Die braune Lisel kenn ich am Geläut.
KUONI
So fehlt uns keine mehr, die geht am weitsten.
RUODI
Ihr habt ein schön Geläute, Meister Hirt.
|5| WERNI
Und schmuckes Vieh – Ists euer eignes, Landsmann?
KUONI
Bin nit so reich – ’s ist meines gnäd’gen Herrn,
Des Attinghäusers, und mir zugezählt.
RUODI
Wie schön der Kuh das Band zu Halse steht!
KUONI
Das weiß sie auch, daß sie den Reihen führt,
Und nähm ich ihr’s, sie hörte auf zu fressen.
RUODI
Ihr seid nicht klug! Ein unvernünft’ges Vieh –
WERNI
Ist bald gesagt. Das Thier hat auch Vernunft,
Das wissen w i r, die wir die Gemsen jagen,
Die stellen klug, wo sie zur Weide gehn,
‘ne Vorhut aus, die spizt das Ohr und warnet
Mit heller Pfeife, wenn der Jäger naht.
RUODI
(zum Hirten)
Treibt ihr jetzt heim?
|6| KUONI
Die Alp ist abgeweidet.
WERNI
Glücksel’ge Heimkehr, Senn!
KUONI
Die wünsch ich Euch,
Von eurer Fahrt kehrt sich’s nicht immer wieder.
RUODI
Dort kommt ein Mann in voller Hast gelaufen.
WERNI
Ich kenn’ ihn, ’s ist der Baumgart von Alzellen.
Konrad Baumgarten (athemlos hereinstürzend)
BAUMGARTEN
Um Gottes willen, Fährmann, euren Kahn!
RUODI
Nun, nun, was giebts so eilig?
BAUMGARTEN
Bindet los!
Ihr rettet mich vom Tode! Sezt mich über!
KUONI
Landsmann, was habt ihr?
|7| WERNI
Wer verfolgt euch denn?
BAUMGARTEN
(zum Fischer)
Eilt, eilt, sie sind mir dicht schon an den Fersen!
Des Landvogts Reiter kommen hinter mir,
Ich bin ein Mann des Tods, wenn sie mich greifen.
RUODI
Warum verfolgen euch die Reisigen?
BAUMGARTEN
Erst rettet mich, und dann steh ich euch
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