Der Zug war pünktlich
und tschechischen und hol-ländischen und belgischen und norwegischen und italieni-schen und luxemburgischen Kneipen: das mit dem Kop-pelumschnallen und Mützeaufsetzen und Grüßen an der Tür, wie beim Verlassen eines Tempels, in dem sehr strenge Götter wohnen.
Und sie verlassen das k. u. k.-Haus, den k. u. k.-
Vorgarten, und Andreas blickt noch einmal diese zerbrök-91
kelte Fassade an, Walzerfassade, ehe sie in die Taxe steigen … weg.
»Jetzt«, sagt Willi, »jetzt fahren wir in das Stempelhaus.
Um fünf machen sie nämlich auf.«
»Kann ich noch einmal die Karte haben«, fragt Andreas den Blonden, aber bevor dieser die Karte aus seinem Luftwaffensack gezogen hat, halten sie schon wieder. Sie sind nur ein Stück in dieser breiten schwermütigen k. u. k.-Allee hinuntergefahren. Da ist offenes Land im Hintergrund und einzelne Villen, und das Haus, vor dem sie halten, ist ein polnisches Haus. Das Dach ist halb flach, die Fassade ist schmutziggelb, und die schmalen hohen Fenster sind mit Läden verschlossen, die an Frankreich erinnern, mit sehr schmalschlitzigen, sehr brüchig ausse-henden, graugestrichenen Läden. Es ist ein polnisches Haus, das Stempelhaus, und Andreas ahnt sofort, daß es ein Bordell ist. Das ganze untere Stockwerk ist verdeckt von einer dichten Buchenhecke, und als sie durch den Vorgarten gehen, sieht er, daß im Erdgeschoß die Fenster nicht verschlossen sind …
Er sieht zimmetfarbene Vorhänge, schmutzigzimmetfar-ben, fast dunkelbraun mit einem Stich ins Rötliche. »Hier gibt es alle Stempel der Welt«, sagt Willi lachend. »Man muß es nur wissen und sicher sein.« Sie stehen mit ihrem Gepäck im Eingang, als Willi die Klingel gezogen hat, und es dauert eine Weile, ehe sie etwas in dem stummen, unheimlichen Hause hören. Andreas weiß ganz sicher, daß sie beobachtet werden. Man beobachtet sie lange, so lange, daß Willi unruhig wird. »Verdammt«, sagt er, »vor mir brauchen sie doch nichts zu verstecken. Sie verstecken nämlich alles Verdächtige, wenn jemand vor der Tür steht, den sie nicht kennen«, sagt er ärgerlich. Aber dann wird 92
die Tür geöffnet, und eine ältliche Frau geht Willi mit ausgebreiteten Armen süßlich lächelnd entgegen. »Ich hät-te Sie fast nicht erkannt«, sagt sie freundlich, »treten Sie ein. Und das«, sagt sie und zeigt auf Andreas und den Blonden, »das sind zwei junge Kameraden«, sie schüttelt etwas abfällig den Kopf, »zwei sehr, sehr junge Kameraden für unser Haus.«
Sie sind alle drei eingetreten und haben ihr Gepäck in einer Garderobennische abgestellt.
»Wir brauchen den Stempel für den Zug morgen früh um fünf, den Kurierzug, Sie wissen.«
Die Frau blickt die beiden Jungen zweifelnd an. Sie ist etwas nervös. Ihr graumeliertes Haar ist Perücke, man sieht es gut. Ihr schmales, scharfgeschnittenes Gesicht mit den grauen verschwimmenden Augen ist geschminkt, sehr dezent geschminkt. Sie trägt ein elegantes, rot und schwarz gemustertes Kleid, das oben geschlossen ist, damit man ihre Haut nicht sieht, ihre welke Haut, die am Hals gut zum Vorschein kommt, Hühnerhaut. Sie müßte einen hohen, geschlossenen Kragen tragen, denkt Andreas, einen Generalskragen.
»Gut«, sagt die Frau zögernd, »und? … und?«
»Vielleicht etwas zu trinken, und für mich ein Mädchen, ihr auch?«
»Nein«, sagt Andreas, »kein Mädchen.«
Der Blonde ist rot geworden und schwitzt vor Angst. Es muß für ihn furchtbar sein, denkt Andreas, vielleicht näh-me er besser ein Mädchen.
Plötzlich hört Andreas Musik. Es ist ein Fetzen Musik, nur ein Lappen Musik. Irgendwo ist eine Tür geöffnet worden zu einem Raum, in dem ein Radioapparat stehen muß, und diese halbe Sekunde, wo die Tür offenbleibt, 93
hört er ein paar Fetzen Musik, so wie es ist, wenn jemand suchend an einem Radio herumschaltet … Jazz … Solda-tenlieder … eine sonore Stimme und ein Bruchstück Schubert … Schubert … Schubert … Nun ist die Tür wieder zu, aber es ist Andreas, als habe ihn jemand mitten ins Herz gestoßen und eine geheime Schleuse geöffnet: er wird bleich und wankt und stützt sich an die Wand. Musik
… ein Fetzen Schubert … zehn Jahre meines Lebens wür-de ich dafür geben, wenn ich noch einmal ein ganzes Schubertlied hören könnte, aber ich habe nur noch zwölf-dreiviertel Stunden, es ist jetzt sicher fünf.
»Sie«, fragt die ältliche Frau, deren Mund scheußlich ist.
Er sieht das jetzt, es ist ein schmaler, verengter Schlitzmund, der nur
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