Der zweite Kuss des Judas.
beizuwohnen, denn für die Prinzessin stellt jedes Theaterstück, und sei es auch zu Ehren Unseres Herrn Jesus Christus, ein Werk des Teufels dar. Sie war in ihrem Privatflügel im dritten Stock des Palastes geblieben, wo er sie nicht fand. Als er sie auch in den angrenzenden Zimmern nicht gefunden hatte, suchte er sie, von verständlicher Sorge getrieben, in sämtlichen Gemächern des Palastes. Schließlich fand er sie in der Privatkapelle, die sich im ersten Stock befindet, ohnmächtig und mit einer, glücklicherweise geringfügigen, Verletzung an der linken Schläfe. Durch die unverzügliche Versorgung erholte sich die Prinzessin, die trotz ihrer dreiundachtzig Jahre von gesunder und robuster körperlicher Konstitution ist, bald und erzählte ihren bangen Verwandten wie folgt: Während vor dem Palast die Aufführung stattfand, verspürte die Prinzessin das dringende Bedürfnis, Gott um Verzeihung zu bitten für die Gotteslästerung, die ihres Erachtens auf der Piazza herausgeschrien wurde, und eilends mehrere Rosenkränze zu beten. Sie verließ ihren Wohnflügel und tat wie folgt: Sie ging in den ersten Stock und betrat durch eine schmale Seitentür die Privatkapelle. Die von uns in Augenschein genommene Kapelle hat keine Fenster, Licht erhält sie nur von zwei großen Altarkerzen auf dem Hochaltar und mehreren Kerzen, die hier und da verteilt sind. Kaum hatte sie einen Schritt über die Schwelle getan, hielt die Prinzessin plötzlich inne, weil sie ein leises, klagendes Stöhnen vernommen hatte, das von irgendwoher an ihr Ohr drang. Sie schärfte den Blick und gewahrte Folgendes:
Ausgerechnet an ihrer, dem Altar am nächsten gelegenen persönlichen Kniebank, bewegte sich bebend ein wirres Knäuel, von dem das Klagen ausging. Sie trat näher, ohne sich bemerkbar zu machen, und erstarrte vor Entsetzen, als sie Folgendes sah:
Mit den Unterarmen auf die Kniebank gestützt, den übrigen Körper nach hinten hochgestreckt, bot eine Frau in einem auf dem Rücken zusammengerafften Kleid ihr nacktes Hinterteil einem Mann, der mit heruntergelassenen Hosen nach Kräften Gebrauch von ihr machte. Erschüttert und unfähig, einen Schrei auszustoßen, trat die Prinzessin dennoch näher, um festzustellen, ob die Kopulierenden zufällig Familienangehörige wären. Nachdem sie die beiden nicht als solche identifiziert hatte, wurde sie vom Entsetzen über das abscheuliche Sakrileg übermannt und fiel, da ihre Kräfte sie verließen, in Ohnmacht. Im Fallen stieß sie sich den Kopf an und zog sich die leichte Verletzung zu. Die beiden Täter nutzten die Ohnmacht der edlen Dame aus, um sich wieder herzurichten und Hals über Kopf zu flüchten.
Marchese Curtò di Baucina verlangt daher Folgendes: Alle Teilnehmer des Passionsspiels (außer den Schauspielerinnen und Schauspielern) seien festzunehmen und einem strengen Verhör zu unterziehen, um die beiden Komparsen, den Mann und die Frau, zu ermitteln, die sich anscheinend heimlich in den Palast geschlichen und die Kapelle sowie den Blick der Prinzessin entweiht haben. Meine Antwort lautete wie folgt:
Dass wir unser Möglichstes und sogar Unmöglichstes tun würden, um die Schuldigen zu ermitteln. Wie Sie jedoch persönlich festzustellen Gelegenheit hatten, sind über hundert Komparsen im Passionsspiel beschäftigt. Das ist, als würde man eine Stecknadel im Heuhaufen suchen. Soll ich trotzdem die Ermittlungen aufnehmen? Und wenn ich die beiden zufälligerweise ermittle, wessen soll ich sie bezichtigen? Zur Ihrer Kenntnisnahme.
Der Maresciallo der Kgl. Carabinieri (Paolo Giummàro) L'Araldo di Montelusa
Redakteur: Pasquale Mangiaforte
Samstag, 22. März 1890
DIE GROSSE AUFFÜHRUNG DES PASSIONSSPIELS IN VIGÀTA
Gestern Nachmittag fand in Vigàta die angekündigte und lang erwartete Aufführung des Passionsspiels statt, die jedoch mit ein paar Minuten Verspätung begann, weil man noch auf einige Vertreter der Obrigkeit wartete. Fröhlich und jubelnd füllte, wie man es sich kaum vorstellen kann, eine ungeheure Menschenmenge die Piazza Grande, ein paar Flegel kletterten sogar auf die Dächer der Häuser, die Balkone waren dicht besetzt, an allen Fenstern standen Leute. Wie schon berichtet, wurde die 30m lange, 10m tiefe und 1,86m hohe Theaterbühne mit ihren großartigen Kulissen zu den einzelnen Szenen - sie stammen von Giacomo Schilirò, dem berühmten Bemaler sizilianischer Karren - in diesem Jahr entlang der Fassade des Palastes der Marchesi Curtò di
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