Der zweite Kuss des Judas.
unverzüglich an und sorgte dafür, dass sie wieder zu sich kamen. Sodann wollen wir an Signora Giuseppina Corleone erinnern, die ihr bezauberndes Aussehen der schmerzensreichen Gestalt der Maria Magdalena lieh; Martha fand ihren höchsten Ausdruck in Signora Lucia Frangipane; Veronika gehörten, überzeugend, das Antlitz und die Stimme von Angiola Riggio; Glaube, Liebe und Hoffnung waren durch die drei verehrten Schwestern Andreina, Elisabetta und Maria Carmela Camilleri von eindringlicher Spiritualität geprägt. Von den Herren Schauspielern (die wir um ihres Einsatzes und ihrer Bravour willen gerne alle aufführen würden, wir bitten für die fehlende Nennung also um Entschuldigung) seien hier erwähnt: der majestätische Kaiphas von Vincenzo Lagùmina mit der mächtigen Stimme; der dramatische Petrus von Bernardo Provenzano, der tosenden Applaus für die Verleugnungsszene erntete, während der ein Hahn (vollendet nachgeahmt von dem Geflügelhändler Mattia Petrosio) dreimal krähte; Simon der Aussätzige von Leoluca Gabarella; der hasenherzige Pilatus von Franco Lo Forte; der Herodes von Filippo Mancuso; der Potifar von Carmelo Nicolosi; der Centurio von Gaetano Spampinato.
Eine eigene Erwähnung verdient die Darstellung Christi, die der Lehrer Erasmo Giuffrida gestern bot. Nicht nur mit seiner Stimme, nein, mit dem ganzen Körper (wundervoll die Szene der Geißelung!) vermochte er die schreckliche Qual, das erhabene Leid Unseres Herrn wiederzugeben, der Fleisch geworden ist, um die Menschen zu erlösen. Als er, bereits gekreuzigt, die Worte »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« sprach, fielen zahlreiche Zuschauer auf die Knie, schlugen sich in einem fort mit der Faust auf die Brust und schrien unter Tränen das »Mea culpa«. Nicht weniger mitreißend war Judas in Gestalt von Filialdirektor Antonio Patò, der seit fünf Jahren seine hochfeine Kunst immer weiter verfeinert. Das Tableau des Letzten Abendmahls war wahrhaft ein Triumph für Judas' heuchlerisches und schmeichlerisches Gebaren. Und die Szene seiner Erhängung mit dem folgenden Sturz in die Erde wurde mit einem Beifallssturm aufgenommen.
Die anwesenden Vertreter der Obrigkeit beglückwünschten den Bürgermeister von Vigàta, Cavaliere Antonio Caruana, und Dekan Don Spiridione Randazzo, die eigentliche Seele des Stückes, zu dem grandiosen Schauspiel.
Marcello Saponara KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
An den
Signor Questore Polizeipräsidium Montelusa
Vigàta, den 22. März 1890
Tgb.-Nr. 210
Betreff: Meldung über Vermissten
Heute Morgen wurde ich kurz nach Tagesanbruch von einem anhaltenden Klopfen an der Haustür geweckt. Als ich öffnete, stand vor mir Signora Elisabetta Mangiafico, Ehefrau von Antonio Patò, dem Direktor der hiesigen Filiale der Banca di Trinacria, der, wie ich vor zwei Tagen erst geschrieben habe, die Achtung aller rechtschaffenen Bürger von Vigàta genießt und der gestern Nachmittag beim Passionsspiel die Rolle des Judas gespielt hat. Tränenreich teilte mir die Signora mit, ihr Mann sei die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, was noch nie geschehen sei, und sie befürchte daher ein Unglück. Es gelang mir, sie mit wohlgesetzten Worten ein wenig zu beruhigen, und ich ließ mich über die wichtigsten Details aufklären. Sie berichtete, sie habe ihren Gatten seit genau dem Augenblick nicht mehr gesehe n, als er in der Rolle des Judas in der Unterbühne verschwand, wie in dem Stück vorgeschrieben. Die Signora hatte das Ende der Aufführung nicht abgewartet, sondern war aufgestanden und nach Hause geeilt, um sich um ihre beiden Kinder zu kümmern, die für die Dauer des Passionsspiels vorübergehend in der Obhut einer alten Nachbarin waren. Sie wunderte sich, dass ihr Mann nicht zum Abendessen kam, war aber nicht übermäßig besorgt, denn sie vermutete, dass er beschlossen hatte, an dem Essen teilzunehmen, das die Hauptdarsteller nach der Aufführung immer veranstalten. Doch sie wunderte sich darüber, dass ihr Mann sie nicht über seine Absicht, auswärts zu essen, verständigt hatte oder hatte verständigen lassen, wo doch Patòs Wohnung nur einige zig Meter von der Piazza Grande entfernt liegt, an der sich übrigens auch die Filiale der Banca di Trinacria befindet.
Sie wartete lange vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes und geriet mit der Zeit immer mehr in Angst, unternahm jedoch nichts, weil sie nicht von zu Hause wegwollte, solange sie niemanden hatte, dem sie die
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