Der zweite Kuss des Judas.
dem er wegen dreifachen Mordes angeklagt war, aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Daher ersuche ich den hochwerten Herrn, mich ermächtigen zu wollen, Gerlando Ciaramiddaro wegen seines ständig wiederkehrenden Benehmens, oft Vorbote blutiger Raufhändel, eine Verwarnung zu erteilen.
Der Polizeikommissar (Ernesto Bellavia)
An den Signor Marisciallo der Carabbinera von Vicàta
Der Unterzeichnete Vasapolli Onofrio genannt Nofriu gebohren in Montirriali wo er immer noch wohnt im Ortsteil Sfirlazza ohne Hausnummer bringt Euch zur Kentnis, das Vasapolli Arturo genannt Tutù seit gestern abend weg ist. Der ist mein Bruder, der ist 45, und die Herren Ärzte von der Irrenanstalt in Montilusa haben gesagt, das er nach zehn Jaren Anstalt wieder gesund is.
Mit Verlaup, einen Scheißdreck gesund, Ihr müsst wissen, das er jeden Morgen, wenn er zum Kacken in den Weinberg geht, auf ein Weinblatt kakt, und dann nimmt er das mit nach Haus und isst es mit Schafsmilch. Der ist völlig verrückt, das weiß meine arme Frau, die quelt sich nehmlich mit ihm rum, weil er von morgens bis abends keinen Finger rürt, er tut sich nur jede halbe Stunde hinknien und beten und dabei schreit er dermaßen sein mea culpa, das sogar die Hunde erschrecken und weglaufen. Die Doktoren von der Anstalt sagen, das wär ein harmloser religiöser Wahn. Von wegen harmlos!
Tutu ist ja lieb und nett, aber er wird zu einem tollwütigen Hund, wenn er höhrt, wie jemand flucht oder unanstendige Sachen sagt. Neulich hab ich arg fluchen müsen, weil mir ein dicker Stein auf den Fuß gefalen ist, da ist er mir über die Felder hinterhergerannt, mit der gedengelten Sense in der Hand, und hat geschrien, das er mir den Kopf abhaut.
Letzte Woche hat er gehöhrt, das das Pasionspiel in Vicàta aufgeführt werden soll, und da ist er gantz rot geworden und hat gesagt, das der Judas dieses Mal nicht ungeschoren davonkommt und das er ihn bei der Gelegenheit eigenhändig umbringt. Weil Tutù seit gesstern weg ist und heute Nacht nicht heimgekomen ist, hab ich mir gedacht, das er vielleicht nach Vicàta gegangen ist, weil er den Judas umbringen will.
Nur damit wir der Verantwortung enthoben sind, ich und meine Frau Signora Spirticato Rosalia.
Kreutz von Vasapolli Onofrio X
Ich der Unterzeichnete Mercurio Alfonzo zweiter Bürgermeister von Montereale erkläre, das das Kreutz von dem Analphabeten Vasapolli Onofrio von Vasapolli Onofrio persönlich ist. Gezeichnet
Mercurio Alfonzo
DU SPIELST DEN JUDAS UND BIST SCHLIMMER ALS ER
(Text eines anonymen Briefes, bestehend aus schlampig
aufgeklebten, aus Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben)
L'Araldo di Montelusa
Redakteur: Pasquale Mangiaforte
Freitag, 21. März 1890
(Gewiss findet es bei unseren treuen Lesern Anklang, wenn wir angelegentlich der heutigen Aufführung des Passionsspiels in Vigàta diesen gelehrten Artikel des bekannten Professors und angesehenen Forschers für Volksgebräuche Consolato Federigo veröffentlichen.)
HIRTENSPIEL UND PASSIONSSPIEL
Bei der vor allem bäuerlichen Bevölkerung im westliche n Teil unseres schönen Trinacria erfreuen sich zwei Theaterspiele allenthalben der größten Beliebtheit. Ohne jeden Zweifel ist hier einmal das »Hirtenspiel« zu nennen, das an den Weihnachtsfeiertagen öffentlich aufgeführt wird, und dann das gemeinhin »Passionsspiel« genannte Stück, das in der Karwoche unter freiem Himmel zur Aufführung kommt. Das »Hirtenspiel«, dessen eigentlicher Titel »Die Emanzipation des Menschen durch Das Wort« lautet, wurde im späten achtzehnten Jahrhundert von dem Kapuzinerpater Fedele Palermo Tirrito aus San Biagio Platani in einem Prolog und drei Akten komponiert. Es fand beim niederen Volk wie beim Bürgertum so großen Anklang, dass es, nach Aussage des Gelehrten Alfonso Zaccaria, sogar ein Dorf gab, das »eine fahrende Lustspieltruppe weit über ein halbes Jahr bei sich beherbergte und den Schauspielern ein kleines Stück Land zusicherte, das sie umstechen und auf dem sie Saubohnen und andere Gemüse anbauen konnten, unter der Bedingung, dass sie allabendlich das Hirtenspiel aufführten (allerdings mit der Auflage, dass der Nardo aus dem Ort stammte)«. Das Werk hat weitgehend chorhaften Charakter und setzt beim Kampf zwischen Luzifer und dem Engel an: Der eine will die Geburt des Erlösers verhindern, der andere sie mit allen erdenklichen Mitteln begünstigen. Sie sind von zahlreichen Figuren umgeben, doch unter
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