Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
und Zufall erzeugen Ordnung und Harmonie. In New York ist auch das Abscheuliche faszinierend. Wie also erst das Glanzvolle.
Wenn man es gut kennt, weiß man, daß hinter der nächsten Ecke eine andere Welt beginnt, eben noch waren alle Koreaner, dann sind alle Polen geworden, eben noch gab es nur Uhren zu kaufen, dann gibt es nur Blumen. Zu einer bestimmten Zeit kann man eine ganze Straße voll orthodoxer Juden mit schwarzen Hüten und Bärten und Löckchen sehen, und zwei Minuten später ist dieses ganze Ge-wusel von Chagallfiguren verschwunden, aber wenn man die richtigen Delis kennt, findet man sie alle wieder. Dann spaziert man zehn Minuten weiter und findet am Rand des Central Parks eine Gruppe Studenten der Julliard School, die ein kleines Konzert mit Barockmusik machen; man geht ein Stück weiter und wühlt an einem Stand zwischen alten Büchern, man steigt ein paar Stufen hinunter und füttert die Grauhörnchen am Ufer eines kleines Sees, umgeben von Wolkenkratzern in Form von Loire-Schlössern. New York ist die Stadt der Gewalt und die Stadt der Toleranz. Es nimmt alle auf, läßt einige sterben, macht andere glücklich, macht aber keine Anschläge auf die Privacy weder der einen noch der anderen, denn es ist das Ideal für einen Millionär, aber auch für einen Clochard. Einmal haben sie ein Experiment gemacht: sie haben einen Typ in eine mittelalterliche Rüstung gesteckt und in eine Telefonzelle gestellt. Nach zehn Minuten hat jemand ärgerlich an die Scheibe geklopft, aber nur, weil der Ritter die Zelle zu lange besetzt hielt; sonst machte er, ob so oder anders gekleidet, auf niemanden besonderen Eindruck. Seine Sache. New York ist auch eine polychrome Stadt: man kann dort alle Farben sehen. Kurzum, New York ist ein Wunder. Beziehungsweise, es war eins. Ich kann jetzt nicht sagen, daß ich nie mehr hinfahren werde, weil ich oft unumgängliche berufliche Verpflichtungen habe, aber sicher ist, daß ich in Zukunft meine New-York-Aufenthalte auf ein Minimum beschränken werde. Denn im Staate New York wird jetzt die Todesstrafe wieder eingeführt.
Wie kann man in einer Stadt leben, wo getötet wird, um zu lehren, daß man nicht töten darf? Wo man, um jemanden davon abzuhalten, mir ein Messer in den Bauch zu stoßen, mich der Gefahr aussetzt, daß ein unvorhersehbarer Justizirrtum jemand anderen ermächtigt, mir eine tödliche Spritze in den Arm oder wohin auch immer zu stoßen? Wie kann ich eine Stadt noch vital und lebensfreudig finden, die im Schatten des legalisierten Todes steht? In jedem Passanten werde ich ein potentielles Henkersopfer sehen, und dennoch werde ich wissen, daß viele von ihnen sich über ihr Schicksal tierisch freuen würden, denn sie haben ja für den gestimmt, der ihnen den Tod versprach.
New York ist eine Stadt mit einem derart ausgeprägten Freiheitssinn, daß vielleicht etwas geschehen wird. Wenn auch gewöhnt an den Geruch seiner pittoresk aufgetürmten nicht abgeholten Müllsäcke, wird es hoffentlich auf den Todesgestank reagieren und nicht dulden, daß die Fackel der Freiheitsstatue als Friedhofsfackel gesehen wird. Aber vorerst ist es nun so.
Was für eine traurige Nachricht! »New York, New York, what a terrible town! The Bronx, the Park, and the Battery are down.«
1995
Politisch korrekt oder intolerant?
In einem früheren Streichholzbrief hatte ich behauptet, daß die Political Correctness, in Amerika entstanden, um die Rechte der unterdrückten Minderheiten zu verteidigen und sich jeder Form von rassistischer Diskriminierung entgegenzustellen, im Begriff sei, sich in einen neuen Fundamentalismus zu verwandeln. Und Fundamentalismen, die annehmen, daß es von einer Wahrheit nur eine einzige Version geben könne, weshalb sie alle anderen als abwegig verwerfen, müssen zwar nicht notwendig intolerant sein (sie könnten anderen gestatten, nicht fundamentalistisch zu sein), aber sie laufen ohne Zweifel Gefahr, es zu werden, indem sie alle diejenigen aus der Gemeinschaft der Rechtgläubigen ausschließen, die sich nicht an die »richtige« Interpretation der Texte halten.
Einer meiner Freunde, Professor an einer amerikanischen Universität, hat mir folgenden Fall erzählt. Er ist Raucher, in den Universitätsgebäuden darf man nicht rauchen, und deshalb geht er in den Pausen zwischen zwei Vorlesungen zum Rauchen hinaus. Auch unter den Studenten gibt es Raucher, die ebenfalls hinausgehen; sie treffen sich draußen und plaudern zehn Minuten miteinander. Ich mache es
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