Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
sie typisch für unser Jahrhundert war, zu der eines qualvollen Exils, wie sie typisch für die früheren Jahrhunderte war. Nein, es gibt ganz einfach kein Exilland mehr. Wohin man auch flieht, man ist immer in Feindesland.
Wenn das Beispiel nicht zu banal erscheint: So wie es keine vergessene und zu entdeckende Insel mehr gibt, auf der man ungestört von Touristenhorden Ferien machen kann, da auch auf dem entlegensten Atoll noch die lärmenden Mitglieder eines per Charter eingeflogenen Kegelklubs zu finden sind - so ist, und das nicht mehr mit komischen, sondern mit tragischen Resultaten, jeder Winkel dieses Planeten bereits von deinem potentiellen Mörder besetzt, der auf dich wartet. Und den Befehl, dich umzubringen, erhält er per Mobiltelefon. Oder als kodifizierte, scheinbar harmlose Nachricht, die im Laufe einer Quizsendung im Fernsehen übermittelt wird.
Was einmal ein witziger Spruch war - »Haltet die Welt an, ich will aussteigen!« -, wird heute mehr denn je zu einem verzweifelten Hilferuf, der nirgendwo mehr Gehör finden kann. Hier haben wir wirklich das, was McLuhan das globale Dorf genannt hat. Aber global ist es nicht so sehr für den Benutzer der elektronischen Kommunikationsmittel, der entdeckt, daß er dasselbe liebt und will, was nicht-seinesgleichen Tausende und Abertausende Kilometer entfernt von ihm lieben und wollen, denn in dieser Einförmigkeit können sehr viele eher einen Grund zur Zufriedenheit und inneren Frieden finden. Es ist nicht global, weil es uns die Illusion erlaubt, daß jedermann unser Nächster sei, sondern es ist global, weil überall auf dem Globus das Gesicht des Feindes hervorlugen kann, der nicht dein Nächster ist, der nicht will, was du willst, und der auch nicht bereit ist, sich mit der anderen Wange zu begnügen, denn er will dich direkt ins Herz treffen.
Und man kann auch nicht aussteigen, denn es gibt unterwegs keine Haltestellen. Das Dorf des annullierten Exils ist global, weil du gar nicht mehr versuchen kannst, den Verfolger abzuschütteln, indem du verzweifelt geradeaus vor ihm davonläufst. Rasch informiert, wird ein anderer sofort bereit sein, das Ruder herumzuwerfen, um dir entgegenzueilen.
1992
Was kostet der Zusammenbruch eines Imperiums?
In diesen traurigen Tagen, in denen wir lesen, was für Scheußlichkeiten auf dem Balkan begangen werden, kommt mir ein Gespräch in den Sinn, das ich kurz nach dem Fall der Berliner Mauer mit Jacques Le Goff gehabt hatte. Man spürte schon, daß das Sowjetreich zu bröckeln begann, auch wenn schwer vorauszusehen war, daß alles so schnell gehen würde, vielleicht wegen des dummen Putsches im letzten August.
Le Goff hatte gerade begonnen, für eine Buchreihe über die Geschichte Europas, die in vier oder fünf europäischen Verlagen gleichzeitig erscheinen sollte, die Themen zu verteilen und die Mitarbeiter auszuwählen, und in dem Zusammenhang hatte ich angeregt, ein Buch über die Kosten des Zusammenbruchs von Imperien schreiben zu lassen. Ich glaube, er hat es in Auftrag gegeben, ich weiß nicht, bei wem, aber damals ging es darum, zu begreifen, wieviel die Zusammenbrüche der früheren Weltreiche gekostet hatten, um daraus irgendwie extrapolieren zu können, welche Kosten beim Fall des sowjetischen Reiches zu erwarten waren.
Ein Reich ist immer auf Zwang gegründet und autokra-tisch; es ist wie ein Deckel auf einem Dampfkessel. Irgendwann wird der innere Druck zu groß, der Deckel springt auf, und es gibt eine Art Vulkanausbruch. Ich sage keineswegs, daß es gut wäre, wenn der Deckel nicht aufspränge, auch weil er gewöhnlich aus thermischen Gründen aufspringt, und die Physik ist weder moralisch noch unmoralisch. Ich sage nur, daß, solange er nicht aufspringt, eine gewisse Ordnung erhalten bleibt, so bedrük-kend diese auch immer sein mag, und daß man, wenn er aufspringt, einen Preis zahlen muß.
Der Zerfall des Römischen Reiches hat zu einer Krise Europas geführt, die in ihrer virulenten Form mindestens sechs Jahrhunderte tobte. Tatsächlich pflanzte sich eine Reihe von Langzeitwirkungen noch in die folgenden Jahrhunderte fort, und vielleicht ist das, was heute auf dem Balkan geschieht - östliche Orthodoxie gegen westliche Katholiken -, noch eine Spätfolge. Wenn heute in Kolumbien und Peru geschieht, was dort geschieht, und wenn Lateinamerika vor den Vereinigten Staaten in die Knie geht, ist das noch eine Konsequenz der langsamen Zersetzung des spanischen Kolonialreichs. Sprechen wir nicht von der
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