Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
immer erneut zu beweisen, daß etwas tatsächlich geschehen ist. Denn die Leugnung dieses Etwas annulliert sich selbst durch die perverse Art, wie über die Beweise und Indizien gesprochen wird. Daß ein Urteil falsch ist, kann man dadurch beweisen, daß man zeigt, wie massiv die Begründung auf einem Vorurteil beruht.
Der Artikel des Historikers Carlo Ginzburg, »Sofri, die gedemütigte Justiz«, in Micromega 2, 1997, den ich gleichzeitig mit seinem Buch von 1991 über den ersten Prozeß gegen Sofri gelesen habe , scheint sich auf die Argumente der Holocaust-Leugner zu beziehen. Die Position dieser Leugner ist (ich spreche nicht von den vorsichtigeren »Revisionisten«, man kann immer über die Zahl der Holocaust-Opfer diskutieren, ob sechs oder fünf Millionen, macht moralisch gesehen nicht viel Unterschied), daß man jeden Beweis anfechten oder anders interpretieren kann, wenn man von vornherein überzeugt ist, daß der Holocaust nicht stattgefunden habe.
Ich bin nicht so unbesonnen und zynisch, den Fall Sofri mit dem Holocaust zu vergleichen. Das wäre ein Ver-
Carlo Ginzburg, Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri, deutsch von Walter Kögler, Wagenbach, Berlin 1991 (A. d. Ü.).
gleich zwischen einer Justizaffäre, von der drei Personen betroffen sind, und einer historischen Tragödie von gigantischen Dimensionen. Aber ich interessiere mich für Argumentationsweisen. Die Argumentationsweisen können die gleichen sein, ob man beweisen will, daß alle Christen den Löwen vorgeworfen gehören oder daß Sacco und Vanzetti schuldig sind, unabhängig von der Zahl der betroffenen Menschen.
Ginzburgs Argumente sind überzeugend auch für diejenigen, die - wie ich - nicht durch eine gemeinsame politische Arbeit oder lange Bekanntschaft mit Sofri verbunden gewesen waren. Sie geben jedem zu denken, der mit gesundem Menschenverstand urteilen will. Es scheint wirklich, als sei der Prozeß beziehungsweise die Prozeßserie gegen Sofri (wenn ich von dem »Fall« spreche, steht der Name Sofri immer als pars pro toto auch für die beiden Mitangeklagten Bompressi und Pietrostefani) unter Mißachtung nicht der Gesetze, sondern jener natürlichen Vernunft geführt worden, die uns dazu veranlaßt, auch in den unterschiedlichsten Lebenslagen einzusehen, daß jemand, der sagt, ihm seien die Haare zu Berge gestanden, damit nur sagen wollte, daß er sich heftig erschrocken habe, und alles übrige ist perverse Haarspalterei.
Jeder, der den Fall mit gesundem Menschenverstand betrachtet, hat das Gefühl, daß Sofri aus den falschen Gründen verurteilt worden ist. Wenn ich »aus den falschen Gründen« sage, will ich denen eine Chance lassen, die von Sofris Schuld überzeugt sind. Er mag schuldig sein, aber die Gründe, aus denen er schuldig gesprochen worden ist, sind falsch.
Warum hat der Prozeß gegen Sofri die Öffentlichkeit so erregt, auch diejenige, die den Angeklagten nicht nahesteht? Aus den gleichen Gründen, auch wenn der politische Hintergrund ein ganz anderer war, aus denen ein (damals viel kleinerer) Teil der Öffentlichkeit sich über den Prozeß Braibanti erregt hatte. Vielleicht erinnert sich noch jemand daran, andernfalls verweise ich ihn auf ein Buch, das ich seinerzeit über den Fall herausgegeben habe. Ein obskurer Gymnasialprofessor in der Provinz -dem ich übrigens nie begegnet bin, weder vorher noch nachher - war wegen »Hörigmachung« (plagio, von lat. plagium, »Menschenraub«) angeklagt worden, weil er zwei junge Männer (Erwachsene wohlgemerkt) dazu verführt hatte, mit ihm ein homosexuelles Verhältnis einzugehen und, schlimmer noch, ein Boheme-Leben, sowie eine Reihe von Ideen mit ihm zu teilen, die vom Marxismus bis zu den atheistischen Ansichten des jüdischen (sic!) Philosophen Baruch Spinoza gingen.
Es ist schwierig, das Delikt der »Hörigmachung« generell zu definieren, wenn allenfalls eine Übertölpelung geistig Minderbemittelter vorliegt - andererseits war auch nicht klar, ob die Verführung zweier Erwachsener zu sexuellen Handlungen als Übertölpelung definiert werden konnte. Aber das war nicht das einzige Problem: Jedem, der den Prozeß verfolgt und die Hunderte von Seiten der Verhandlungsakten und des Schlußurteils gelesen hatte, war klargeworden, daß dieser Prozeß gegen alle Regeln der Logik und der Vernunft geführt worden war - Ursachen waren mit Wirkungen verwechselt worden und umgekehrt, als belastend war gewertet worden, daß sich der Angeklagte mit dem Leben
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