Des Abends eisige Stille
in langen Hosen und mit bunten Blumensträußen in der Hand, keine Gärtner, die Unkraut aus dem Kies zupften.
Es war immer noch kühl, aber der Nebel hatte sich gehoben, und die Sonne ging auf.
Vor zwei Jahren war ihm das Grabmal zum ersten Mal aufgefallen, und er hatte es im Hinterkopf behalten, doch in diesem Jahr war er hauptsächlich an den Marktständen gewesen, hatte die Berge von Obst, Fisch und Gemüse gezeichnet, die Menschen beim Einkaufen, die Standbesitzer, und er hatte weder Zeit noch Energie gehabt, sich auf die Friedhofsinsel einzulassen.
Er erreichte das Grabmal und blieb stehen. Es war von einem Engel mit gefalteten Schwingen gekrönt, an die drei Meter hoch, umgeben von drei Cherubim, alle mit gebeugten Köpfen und trauerndem Ausdruck, alle ernst, unbewegt schön. Obwohl in der Darstellung idealisiert, war sich Simon sicher, dass die Figuren nach lebenden Vorbildern gestaltet worden waren. Auf dem Grabstein stand die Jahreszahl 1822, die Gesichter der Engel waren typisch venezianisch, Gesichter, wie man sie noch heute sah, bei älteren Männern auf dem Vaporetto ebenso wie bei den jungen Männern und Frauen, die in ihrer Designerkleidung am Wochenende abends auf der Riva degli Schiavoni promenierten. Man sah solche Gesichter auf den großartigen Gemälden in den Kirchen, als Cherubim und Heilige und Jungfrauen und Prälaten und bei den einfachen Bürgern, die zu ihnen hinaufblickten. Simon war davon fasziniert.
Er fand einen Sitzplatz auf dem Rand eines benachbarten Grabmals und holte Zeichenblock und Bleistifte heraus. Er hatte auch eine Thermoskanne mit Kaffee und etwas Obst dabei. Es war immer noch diesig und nicht warm. Aber in den nächsten drei Stunden würde er ganz von seiner Arbeit in Anspruch genommen sein, sie nur gelegentlich unterbrechen, um sich auf den Friedhofswegen die Beine zu vertreten. Um zwölf würde Ernesto ihn wieder abholen. Simon würde seine Sachen in die Wohnung bringen, dann auf einen Campari und etwas zu essen in seine Stammtrattoria gehen. Später würde er ein wenig schlafen, bevor er einen Spaziergang in den geschäftigeren Teilen der Stadt machte, vielleicht mit dem Vaporetto den Canal Grande hinauf- und hinunterfahren, nur um es zu genießen, zwischen den alten, zerfallenden, vergoldeten Häusern auf dem Wasser zu sein und zu sehen, wie die Lichter angingen.
Seine Tage waren fast unterschiedslos. Er zeichnete, ging spazieren, aß und trank, schlief, schaute. Er dachte nicht viel an zu Hause und sein anderes Arbeitsleben.
Doch diesmal …
Er wusste, warum es ihn nach San Michele und zu den Statuen der trauernden Engel zog, aus demselben Grund, aus dem er die dunklen, weihrauchgeschwängerten kleinen Kirchen in abgelegenen Ecken der Stadt aufgesucht hatte, herumgegangen war und dieselben alten Witwen in Schwarz mit ihren Rosenkränzen hatte knien oder Kerzen anzünden sehen.
Der Tod von Freya Graffham, die unter seiner Leitung als Detective Sergeant nur so kurze Zeit im Polizeirevier von Lafferton gearbeitet hatte, war ihm viel nähergegangen, als er erwartet hatte. Seit ihrer Ermordung war ein Jahr vergangen, und die entsetzliche Tat verfolgte ihn immer noch ebenso wie die Tatsache, dass sie seine Gefühle auf eine Art angesprochen hatte, die er sich vor ihrem Tod nicht hatte eingestehen wollen.
Simons Schwester Cat Deerborn hatte gesagt, er erlaube sich nur, tiefer für Freya zu empfinden, weil sie tot sei und deshalb unfähig zu reagieren und daher keine Bedrohung mehr darstellte.
Hatte er sich bedroht gefühlt? Er wusste, was seine Schwester meinte, aber vielleicht war das bei Freya anders gewesen.
Simon verlagerte das Gewicht und verschob den Skizzenblock auf den Knien. Er zeichnete nicht die ganze Statue, sondern einzeln die Gesichter des Engels und der Cherubim; er wollte noch einmal wiederkommen, um das Grabmal als Ganzes zu zeichnen und dann an jeder Zeichnung zu arbeiten, bis er zufrieden war. Seine nächste Ausstellung würde die erste in London sein. Alles musste stimmen.
Eine halbe Stunde später stand er auf, um sich die Beine zu vertreten. Der Friedhof lag immer noch verlassen, und die Sonne stand jetzt höher am Himmel, wärmte sein Gesicht, als er den Pfad zwischen den schwarzen, weißen und grauen Grabsteinen entlangging. Während dieses besonderen Venedigaufenthalts hatte Simon sogar mehrfach überlegt, ob er nicht ganz hierher ziehen sollte. Er hatte seinen Beruf immer mit Leidenschaft ausgeübt – als Einziger seiner Familie,
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