Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
Vom Netzwerk:
langen unregelmäßigen Containerreihen entlang. Auf der Seite, zu der LaGuerta auf hohen Absätzen geschwankt war, standen mehrere Reihen leuchtend bunter Lastwagenauflieger. Und rechts vor mir erstreckten sich Reihen von Schiffscontainern.
    Plötzlich war ich verunsichert. Das Gefühl gefiel mir nicht. Ich schloss die Augen. Im gleichen Moment wurde das Flüstern zu einer Klangwolke, und ohne zu wissen, warum, setzte ich mich zu einer Ansammlung von Schiffscontainern unten am Wasser in Bewegung. Ich hatte keinen bewussten Hinweis darauf, dass diese speziellen Container irgendwie anders oder besser waren oder diese Richtung sich als besonders erfolgreich erweisen würde. Mein Füße setzten sich einfach in Bewegung, und ich folgte ihnen. Es war, als folgten sie einem Pfad, den nur die Zehen sehen konnten oder als sänge mein innerer Chor ein bezwingendes Motiv und meine Füße übersetzten es und zogen mich weiter.
    Und während sie mich zogen, schwoll der Klang in meinem Inneren an, ein gedämpftes, übermütiges Röhren, das mich schneller als meine Füße voranzog, mich unbeholfen kräftig reißend den gekrümmten Pfad zwischen den Containern entlangzerrte. Doch gleichzeitig schob mich eine neue, leise und vernünftige Stimme zurück, versicherte mir, dass ich hier überhaupt nicht sein wollte, flehte mich an fortzulaufen, nach Hause zu fahren, mich von diesem Ort zu entfernen – und sie ergab genauso wenig Sinn wie die anderen Stimmen. Ich wurde gleichzeitig so kraftvoll vorwärtsgerissen und rückwärts-geschoben, dass meine Beine nicht richtig funktionierten, ich stolperte und mit dem Gesicht zuerst auf den harten, steinigen Boden schlug. Ich kam mit trockenem Mund und pochendem Herzen auf die Knie, wo ich innehielt und einen Riss in meinem schönen Polohemd befingerte. Ich steckte meine Fingerkuppe durch das Loch und kitzelte mich selbst. Hallo, Dexter, wo willst du hin? Hallo, Mr Finger. Ich weiß nicht, aber ich bin schon fast da. Ich höre meine Freunde rufen.
    Und so erhob ich mich auf meine schwankenden Füße und lauschte. Jetzt hörte ich es deutlich, auch mit geöffneten Augen, und es war so überwältigend, dass ich nicht weitergehen konnte. Ich stand einen Moment an einen der Container gelehnt. Eine sehr ernüchternde Vorstellung. Als ob ich eine gebraucht hätte. An diesem Ort war etwas Namenloses geboren worden, ein Ding, das in dem finstersten verborgensten Loch in dem Ding lebte, das Dexter war, und zum ersten Mal seit ich mich erinnern konnte, hatte ich Angst. Ich wollte nicht hier sein, wo grauenhafte Dinge lauerten. Aber ich musste hier sein, um Deborah zu finden. Ich wurde wie in einem unsichtbaren Tauziehen in zwei Hälften gerissen. Ich fühlte mich wie Sigmund Freuds Vorzeigekind und wollte nach Hause ins Bett.
    Aber im dunklen Himmel über mir röhrte der Mond, das Wasser heulte im Government Cut, und die milde Nachtluft kreischte wie eine Versammlung von Todesfeen. Sie alle zwangen mich vorwärts. Und der Gesang in meinem Inneren schwoll wie ein gigantischer mechanischer Chor, drängte mich vorwärts, ermahnte mich, meine Füße zu benutzen, schob mich steifbeinig die Containerreihen hinunter. Mein Herz pochte und jammerte, meine kurzen, keuchenden Atemzüge waren viel zu laut, und zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, fühlte ich mich schwach, benommen und dumm; wie ein menschliches Wesen, wie ein sehr kleines und hilfloses menschliches Wesen.
    Ich stolperte auf geliehenen Füßen den seltsam vertrauten Pfad hinab, bis ich nicht weiter konnte und noch einmal den Arm ausstreckte, um mich an einen Container zu lehnen, einen Container mit eingebauter Kühlanlage, deren Klopfen auf der Rückseite sich mit dem Kreischen der Nacht verband und so laut in meinem Kopf dröhnte, dass ich kaum noch sehen konnte. Und als ich mich gegen den Container lehnte, schwang die Tür auf.
    Das Innere des Containers wurde von zwei batteriegetriebenen Sturmlampen erhellt. An der gegenüberliegenden Wand stand ein provisorischer Operationstisch aus Frachtkisten.
    Und auf diesem Tisch lag gefesselt und reglos meine liebe Schwester Deborah.

26
    E in paar Sekunden lang schien atmen nicht wirklich notwendig zu sein. Ich sah einfach nur hin. Lange, glatte Streifen Paketband schlangen sich um Arme und Beine meiner Schwester. Sie trug Hotpants aus Goldlamé und eine knappe blaue, über dem Nabel geknotete Seidenbluse. Ihre Haare waren straff zurückgebunden, ihre Augen unnatürlich geweitet, und sie atmete

Weitere Kostenlose Bücher