Dezembergeheimnis
will jedes Glas Fruchtsaft, das Sie haben, und zwar
jetzt
!«
»Aber … das … «
»Ich bezahle sie Ihnen auch, aber holen Sie mir jetzt diese beschissenen Gläser!«
Noch für einen Moment sah Frau Peters sie mit großen Augen an, ehe sie in einen Anschlussraum hastete. Lea widmete sich wieder Noel.
»Ich lasse dich nicht sterben«, flüsterte sie. Sie griff in ihre Tasche und holte die eine Packung Orangensaft hervor, die sie noch im Kühlschrank gehabt hatte. Mit einer Schere zerschnitt sie Noels Schlafanzug und tröpfelte den Saft so behutsam es ging in die Rillen und Risse. Sie konnte sich selbst nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Bei einem normalen Kuchen konnte Saft ihn immerhin noch feuchter werden lassen – und das war gut beim Vertrocknen, richtig? – aber solche Risse wieder zu kleben, brauchte schon was anderes.
»Marmelade vielleicht«, murmelte sie. »Oder Zuckerguss.«
»Lea, hör auf, tu dir das nicht an«, bat Noel, doch Lea wollte davon nichts hören.
»Merkst du nicht, dass es dir schon viel besser geht? Du kannst schon viel besser sprechen!«
»Aber das wird nicht halten. Der Zauber ist vorbei. Bitte, lass mich gehen.«
»Nein, Noel, nein!« Sie hörte nicht auf, ihn mit dem Saft zu begießen, auch nicht nach der zweiten und dritten Packung, die ihr die Bäckerin gebracht hatte.
»Kind, du weichst ihn auf! Er wird noch zerfließen! Hör auf!«
Frau Peters hatte Recht. Oder auch nicht, denn sobald Lea aufhörte, trocknete Noels Körper wieder wie Boden in der Wüste.
»Bitte, ich muss doch irgendetwas tun können!« Ihr Blick wanderte zwischen Noel und Frau Peters hin und her, doch beide sahen sie nur hilflos an.
»Das kann nicht sein, du darfst nicht gehen.« Leas Stimme erstickte, noch bevor ihre ersten Tränen überhaupt in den Augen angekommen waren.
»Lea, hör mir zu.«
Sie versuchte ruhig zu atmen und Noel in die Augen zu sehen, aber die Tränen wollten sich nun nicht mehr vertreiben lassen. Wild blinzelnd versuchte sie, sie loszuwerden, und bemerkte dabei, wie Noel die Hand heben wollte, doch sie lag bereits nur noch nutzlos neben ihm. Schnell blickte sie zurück in sein Gesicht, der offenbar einzige noch lebende Teil.
»Es geht so schnell«, hauchte sie. »Das geht viel zu schnell.«
»Lea, ich möchte dir danken. Guck mich an. Danke. Für alles. Danke, dass du mich nie aufgegeben und an mich geglaubt hast.«
»Nein! Du hast immer an mich geglaubt und ich war nie zufrieden. Es tut mir so leid! Bitte, verlass mich nicht!«
»Ich muss. Meine Zeit ist um. Dank dir habe ich mich zwar wie ein Mensch gefühlt, aber ich bin doch nur gebacken.« Lea bekam ihren Körperwieder halbwegs unter Kontrolle und schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass ein Kuchenmann jemals so viel empfinden durfte wie ich. Ich hoffe, du glaubst mir jetzt, wenn ich dir sage, dass ich dich liebe.«
»Ja«, schluchzte sie, so viel zur Kontrolle. »Ja, ich glaube dir.«
Noel schmunzelte leicht. »Ich bin froh. Komm her.«
Sie beugte sich vor und küsste ihn und ihre Tränen benetzten sein Gesicht.
»Sag es noch mal«, flehte sie.
»Ich liebe dich.«
»Noch mal!«
»Ich liebe dich.«
Sie küsste ihn und weinte. »Noch mal.«
»Ich … « Er holte Luft, aber sein Atem erstarb.
»Noch mal!«, forderte sie. »Du musst es nochmal sagen! Du kannst nicht gehen, du musst es noch mal … « Schluchzend und bebend brach sie über ihm zusammen. Der Körper unter ihr war so hart wie Stein und von zentimetertiefen Furchen übersät. »Du musst es noch mal sagen …!«
Doch Noel hörte sie nicht mehr. Sie fühlte keine Wärme mehr und roch nichts weiter als staubtrockenen Zimtkuchen.
Frau Peters ließ ihr nicht lange, um diese Entwicklung zu verarbeiten. »Komm, setz dich erst mal. Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein … Soll ich dir vielleicht einen Tee machen?«
»Ich möchte mich nicht setzen«, entgegnete Lea, doch als Frau Peters sie an die Hand nahm und wegzog, war keine Kraft in ihr, um sich zu wehren, kein Widerstand, der überwunden werden musste. Sie ließ sich auf einen kleinen Hocker drücken und starrte auf Noel. Oder das, was von ihm übrig war.
Er sah aus wie ein Steingolem. Ein großer missglückter Kuchen in der Form eines Menschen, bei dem der Feinschliff fehlte. Auf dem Weg hierher hatte er offensichtlich wirklich ein paar Zehen verloren und vor allem die rechte Hand drohte sich bald endgültig vom restlichen Körper zu trennen.
Hatten sie
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