Dezembergeheimnis
Augen weiteten sich und ein Zittern ging durch seinen Körper, dass er beinahe in sich zusammenfiel. Für einen Wimpernschlag dachte sie, es wäre ein Herzinfarkt. Doch dann erinnerte sie sich, dass er gar kein Herz besaß.
So sanft wie möglich richtete sie sich auf und drückte ihn längs in die Sofakissen und versuchte, den Schmerz aus seinem Gesicht zu streicheln.
»Ruhig«, flüsterte sie immer wieder. »Lass los. Es ist gleich vorbei.«
Als er sich endlich wieder entspannte, blickte er sie keuchend an.
»Morgen«, sagte Lea.
»Morgen«, wiederholte er.
Als Noel wieder stehen konnte, zogen sie sich in Leas Schlafzimmer zurück. Sie waren beide müde und erschöpft, doch keiner wollte ihre Zweisamkeit beenden. Noels Küsse, seine Berührungen … Sie waren irgendwie bittersüß. Voller Trauer und, wie Lea sich einbildete, Abschied. Aber nein, das bildete sie sich nur ein. Noel blieb bei ihr und ihre seltsamen Gespräche waren nur Zufall. Sie waren schließlich endlich an dem Punkt angelangt, an dem sie eine wirkliche Beziehung beginnen konnten. Da war keine Zeit für Abschied.
Als sie mindestens eine Stunde später aneinander gekuschelt einschliefen, war sie sich sicher, dass es nur eine Einbildung gewesen war. Noel hielt sie, als würde er sie nie wieder gehen lassen wollen. Sie war sich so sicher.
Lea wurde von einem Schrei aus dem Schlaf gerissen. Sie schoss in die Senkrechte und fasste nach Noel, doch das Bett neben ihr war verlassen und kalt. Ein weiterer Schrei folgte, zusammen mit einem Stöhnen, und es klang, als käme er aus dem Flur.
Hastig strampelte sie sich aus dem Bett und rannte nach draußen. Die Wohnungstür stand offen und aus dem Hausflur drang ein Poltern. Das konnte nicht Noel sein, es durfte nicht Noel sein. Sie flitzte zur Tür und sah die Treppe runter; da lag er auf dem ersten Absatz zusammengekrümmt und hielt sich den Arm.
»Noel, um Gottes willen! Bist du gestürzt?« Sie sprang die Stufen nach unten, sich nicht weiter drum kümmernd, dass sie nur Shirt und Unterhose trug. »Tut dir der Arm weh, hast du dir was gebrochen?« Sie tastete sein Gesicht ab, seine Schultern, versuchte, ihn umzudrehen, aber er blieb nur stöhnend liegen.
»Lea, geh wieder rein, bitte!«, flehte er und schloss die Augen.
»So ein Stuss! Was ist passiert? Wo tut’s weh, musst du zu Frau Peters?« Ihre Stimme wurde immer höher und sie redete immer schneller. »Noel, rede mit mir, wie kann ich dir helfen?«
»Du kannst mir nicht helfen. Ich zerfalle«, sagte Noel mit rauer, rasselnder Stimme. Seine Augen waren fast geschlossen, doch er zwang sich, Lea weiter anzusehen.
»Du … zer … fällst?« Sie erstarrte in der Bewegung.
»Vier Wochen sind um. Meine Haltbarkeit ist abgelaufen.«
Wie zum Beweis riss die Haut seines rechten Unterarms auf und entblößte vertrocknete Krümel.
Kapitel 23
Für einen Moment war Lea taub und blind gleichzeitig, dann fürchtete sie, sie müsse sich übergeben mit parallelem Durchfall dazu. Ihr wurde schwarz vor Augen, doch sie schaffte es, sich wieder auf Noel zu konzentrieren.
Ihre Reaktionen waren schnell und fokussiert. In Windeseile erhob sie sich, sprintete zurück in die Wohnung und zog sich eine Jeans an. Sie schnappte eine kleine Reisetasche aus dem Schrank und packte Klamotten für Noel als auch alles an Backzutaten ein, was sie finden konnte, steckte noch Jacke und Schlüssel ein und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Noel hatte sich nicht wirklich viel bewegt und erst als Lea dieses Mal die Treppe zu ihm hinunterrannte, fielen ihr die vielen Krümel auf, die überall verteilt waren.
Er log nicht. Er starb.
Lea konnte nicht fühlen. Da war etwas wie ein großes Loch in ihr, was alles überdeckte; Angst, Trauer, Wut und so vieles, was sie nicht einmal benennen konnte. Also handelte sie einfach Schritt für Schritt. Sie brachte die Sachen in den Wagen und parkte ihn in zweiter Reihe direkt vor der Haustür. Als nächstes stützte beziehungsweise trug sie Noel die Treppe runter, wobei sie im Nachhinein nicht mehr nachvollziehen konnte, wie sie das zustande gebracht hatte. Ihr Kuchenmann konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten und schien beständig zwischen Gegenwart und Besinnungslosigkeit hin- und herzuschwanken. Leas größte Angst war, dass ihm bei dem Transport direkt ein ganzer Körperteil abfiel.
Die Einzige, die Lea kannte, die ihr helfen konnte, war Frau Peters. Die Fahrt dauerte gefühlt ewig und erst währenddessen fiel ihr
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