Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
kaum der richtige Zeitpunkt zu sein. Wenn sie in dieser Nacht starb, würde sie dann bereuen, ihm nichts gesagt zu haben?
Wahrscheinlich nicht, dachte sie in einem Anflug von Sarkasmus. Tote bereuten nichts.
Schatten wurde langsamer und drehte sich um.
Wynn blieb stehen und folgte dem Blick der Hündin. Chane starrte bereits nach hinten. Er hatte etwas gespürt und musste sich nicht extra von Schattens Knurren warnen lassen.
»Er kommt«, sagte Wynn.
Tristan drängte Reine zur Wand und zog sein Schwert, obwohl er wusste, dass es ihm nichts nützte. Wynn streckte ihm die Hand entgegen und schloss sie.
Der Hauptmann verstand und schloss die Finger um den Kristall. Das Licht verschwand.
Wynn griff in die Tasche, holte ihre Schutzbrille hervor und setzte sie auf.
Schattens Jaulen hallte durch den Tunnel.
»Schatten, nein«, flüsterte Wynn, und daraufhin gab die Hündin keinen Ton mehr von sich.
In der Stille hörte Wynn das flache, schnelle Atmen der Herzogin und die langsameren, gleichmäßigen Atemzüge des Hauptmanns. Schatten zischte leise – vermutlich hätte sie am liebsten laut geknurrt –, und von Chane kam nicht das geringste Geräusch. Stumm und reglos stand er da, und plötzlich regte sich eine neue Sorge in Wynn.
»Der Sonnenkristall …«, flüsterte sie und hoffte, dass nur er sie hörte. »Hier kannst du dich nicht verstecken.«
»Mein Mantel wird genügen.«
Stimmte das? In ihrem Gildenzimmer war er in die Hocke gegangen und hatte sich unter seinen Mantel geduckt, aber il’Sänke hatte den Kristall nur für einen Moment leuchten lassen. Weitaus mehr war nötig, um den Wrait zu erledigen und ihn nicht nur für kurze Zeit zu vertreiben.
»Beginn mit deinen Vorbereitungen«, hauchte er.
»Kannst du ihn sehen?«, fragte Wynn.
»Achte auf Schatten«, erwiderte er.
Er schob sich an Wynn vorbei, ging hinter ihr in die Hocke und schlang ihr einen Arm sanft um die Taille. Was hatte er vor? Wollte er sie vielleicht in Sicherheit ziehen, wenn dies nicht klappte?
»Ihr alle, schließt die Augen«, flüsterte Wynn. »Chane … zieh die Kapuze ins Gesicht.«
Sie spürte, wie er sich bewegte, doch der Arm blieb an ihrer Taille.
Im Dunkeln tastete ihre eine Hand am Stab entlang zum Kristall, damit sie eine Vorstellung davon bekam, wo er sich befand. Sie konzentrierte sich darauf und begann so, wie il’Sänke es sie gelehrt hatte. Die ineinander verschachtelten Kreise und Dreiecke kamen diesmal schnell, jeweils zu zweit, begleitet von altsumanischen Worten.
Schatten knurrte laut.
Wynn rief die letzten Worte fast: » Mênajil il’Núr’u mên’Hkâ’ät! « Für das Licht des Lebens!
Licht gleißte vor Wynns Augen, und für einen Moment wurden die Brillengläser schwarz. Eine Mischung aus Kreischen und Zischen drang an ihre Ohren, und Schatten jaulte. Dann wurden die Gläser der Brille wieder klar, und sie sah …
… den Wrait, wie er im Tunnel zuckte und zappelte.
Hatte sie ihn so überrascht? War das Glück endlich einmal auf ihrer Seite? Wynn trat einen Schritt vor, richtete den Stab nach vorn und versuchte den Kristall in den dunklen »Körper« des Wraits zu stoßen.
Die Dunkelheit trieb wie eine Rauchwolke auseinander und breitete sich in alle Richtungen aus. Das Zischen wurde leiser, und schwarze Ausläufer lösten sich im hellen Schein des Sonnenkristalls auf.
Wynn stand wie gelähmt da – und erwachte aus ihrer Starre, als sich ihr Chanes Arm fester um die Taille schlang. Rasch ließ sie das Muster aus Kreisen und Dreiecken vor dem inneren Auge verschwinden und vertrieb auch das mentale Echo der beschwörenden Worte.
Das Gleißen des Kristalls erlosch, und sie nahm die Brille ab.
»Etwas Licht!«, rief sie.
Ein Teil der Dunkelheit wich aus dem Tunnel, als Tristan die Hand öffnete, die den Kaltlampen-Kristall hielt.
»Ist er weg?«, fragte er. »Ist er diesmal erledigt?«
Wynn sah durch den leeren Tunnel.
Sie wusste die Antwort nicht. Alles war sehr schnell geschehen, wie auch in Calm Seatt vor dem Skriptorium. Aber diesmal … Der Wrait schien sehr schnell verbrannt zu sein. Und sie roch etwas Sonderbares, ganz schwach im allgemeinen Geruch des Meerwassers.
»Wynn?«, hauchte Chane.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Bist du in Ordnung?«
»Ja.«
Sie streckte Tristan die Hand entgegen, der ihr daraufhin den Kaltlampen-Kristall gab. Damit leuchtete sie durch den Tunnel.
Chane ließ ihre Taille los, richtete sich auf und fasste sie hinten an der Kutte, was sie
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