Die letzte Delikatesse
Der Geschmack
Rue de Crenelle, Zimmer
Wenn ich von der Tafel Besitz ergriff, tat ich es als Monarch. Wir waren die Könige, die Sonnen jenes ein paar Stunden währenden Festgelages, das über ihre Zukunft entscheiden, den tragisch nahen oder köstlich fernen und strahlenden Horizont ihrer Hoffnungen als Chefköche abstecken würde. Ich betrat den Raum wie der Konsul die Arena, um bejubelt zu werden, und verfügte, das Fest möge beginnen. Wer noch nie den berauschenden Geschmack der Macht gekostet hat, kann sich diesen plötzlichen Adrenalinstoß nicht vorstellen, der den ganzen Körper durchfährt, Harmonie in die Bewegungen bringt, jede Müdigkeit auslöscht, jede Realität, die sich nicht dem Gebot der eigenen Lust unterwirft, diese schrankenlose Ekstase der Macht, wenn man nicht mehr kämpfen muß, sondern nur noch genießen kann, was man erreicht hat, und den Rausch, Furcht einzuflößen, endlos auskostet.
So waren wir, und so regierten wir als Herren und Meister über die bedeutendsten Tafeln Frankreichs, übersatt von der Vortrefflichkeit der Gerichte, von unserem eigenen Ruhm, mit der nie gestillten, uns noch immer wie die erste Fährte eines Jagdhundes erregenden Lust, über diese Vortrefflichkeit zu entscheiden.
Ich bin der größte Gastronomiekritiker der Welt. Mit mir hat sich dieses Kunsthandwerk in die Ränge der angesehensten Künste emporgeschwungen. Man kennt meinen Namen von Paris bis Rio, von Moskau bis Brazzaville, von Saigon bis Melbourne und Acapulco. Ich habe Reputationen gemacht und wieder zunichte gemacht, ich war der bewußte und schonungslose Dombaumeister bei all diesen üppigen Festgelagen und verteilte das Salz oder den Honig meiner Feder in alle Winde der verschiedenen Zeitungen, Radio-, Fernsehsendungen und Podiumsgespräche, wo ich laufend eingeladen war, mich lang und breit über das auszulassen, was bis anhin dem engen Kreis von Fachzeitschriften oder den in Abständen erscheinenden wöchentlichen Chroniken vorbehalten gewesen war. Für alle Ewigkeit habe ich unter meinen Jagdtrophäen einige der erlesensten Kochmützen-Exemplare aufgespießt. Mir, und nur mir allein, ist der Ruhm und danach der Fall des Hauses Partais, der Untergang des Hauses Sangerre, der immer strahlendere Glanz des Hauses Marquet zu verdanken. Für die Ewigkeit, ja, für die Ewigkeit habe ich sie zu dem gemacht, was sie sind.
Im Gehäuse meiner Worte hielt ich die Ewigkeit fest, und morgen werde ich sterben. In achtundvierzig Stunden werde ich sterben – es sei denn, ich sterbe unaufhörlich schon achtundsechzig Jahre lang und geruhe erst heute, es zu merken. Wie dem auch sei, gestern ist das Urteil von Chabrot, dem Arzt und Freund, gefallen: »Mein Lieber, dir bleiben achtundvierzig Stunden.« Welche Ironie! Nach Jahrzehnten der Schlemmerei, nach Strömen von Wein, von Alkoholika aller Art, nach einem Leben in Butter, Sahne, Sauce und Fritüre, nach der allzeit sachkundig inszenierten, mit peinlicher Sorgfalt gehätschelten Maßlosigkeit, geht es meinen treuesten Gefolgsleuten, Dame Leber und ihrem Begleiter, dem Magen, glänzend, und es ist mein Herz, das mich im Stich läßt. Ich sterbe an einer Herzinsuffizienz. Welche Bitterkeit auch! So oft habe ich den anderen vorgeworfen, ihrer Küche, ihrer Kunst mangle es daran, daß ich gar nie auf den Gedanken gekommen bin, es könnte vielleicht mir fehlen, dieses Herz, das mich so plötzlich verrät, mit kaum verhohlener Herablassung, so schnell, wie sich das Fallbeil geschärft hat …
Ich werde sterben, aber das ist nicht von Bedeutung. Seit gestern, seit Chabrot, ist nur noch eines von Bedeutung. Ich werde sterben, und es gelingt mir nicht, mich an einen Geschmack zu erinnern, der mir nicht aus dem Herzen will. Ich weiß, daß dieser Geschmack die erste und die letzte Wahrheit meines Lebens ist, daß in ihm der Schlüssel zu einem Herzen verwahrt liegt, das ich seither zum Schweigen gebracht habe. Ich weiß, daß es ein Geschmack der Kindheit ist, oder der Jugend, eine ursprüngliche und wunderbare Speise aus der Zeit vor jeder Berufung zum Kritiker, vor jedem Wunsch und jedem Ehrgeiz, meine Lust am Essen in Worte zu fassen. Ein vergessener Geschmack, der sich in meinem tiefsten Inneren eingenistet hat und sich in der Dämmerstunde meines Lebens als die einzige Wahrheit entpuppt, die in ihm geäußert – oder in die Tat umgesetzt wurde. Ich suche, und ich finde nicht.
Renée
Rue de Grenelle, Pförtnerloge
Und was sonst noch?
Nicht
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