Dhana - Im Reich der Götter
Dhana nur zu gut kannte: Es war das von Ozorne, dem Sturmflügel, einst der
Kaiserliche Magier genannt. Er hockte auf einem Holzzaun und starrte in die
Ferne.
Plötzlich blickte er nach unten, er schien sie direkt
anzustarren. Sein Mund verzog sich zu einem teuflischen Grinsen. Indem er den
Kopf zurückwarf, stieß er ein Kreischen aus, das sie sogar unter Wasser hörte.
Dhana stieß unwillkürlich einen entsetzten Schrei aus
und musste husten, als ihr das Wasser des Teichs Mund und Kehle füllte. Sie
stieß sich vom Grund ab und schoss an die Oberfläche, wobei sie versuchte nicht
noch mehr Wasser einzuatmen. Als sie an der Oberfläche angekommen war, strömte
ihr Wasser aus Nase und Mund.
War das ein anderer Finsterling gewesen oder derjenige
von gestern, überlegte sie hustend. Und wie konnte ein Finsterling ihr ein Bild
von Ozorne zeigen? Wieso ... Ein tiefes, durchdringendes Brummen erfüllte ihr
magisches Gehör. Anfangs noch schwach, verwandelte es sich rasch zu einem Dröhnen.
Wie gehetzt, blickte Dhana sich nach der Ursache um. Nur ein Unsterblicher
konnte ihre Magie auf diese Weise ansprechen. Der Ton war ihr neu, was
bedeutete, dass sie dieser Art von Unsterblichem noch nie begegnet war. Das
gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie hatte etwas gegen Überraschungen dieser Art.
Ihre Sachen lagen am Rand einer breiten Bucht. Auf der anderen Seite dieser
Bucht kräuselte sich die Luft. In ihrem aufgewühlten Zentrum wurden ein rötlich
brauner Arm, eine Hand mit schwarzen Nägeln und ein kräftiges, zottiges Bein
mit einem gespaltenen Huf an Stelle eines Fußes sichtbar. Dhana hielt den Atem
an, als der Besitzer von Arm und Bein vollends vom Reich der Sterblichen in das
Reich der Götter übergewechselt hatte. Es war ein Taurus, ein zur Hälfte
menschlicher Stier, wie sie ihn aus den Sagen kannte.
Sie bekam eine Gänsehaut. Sie hatte Zeichnungen
gesehen und Geschichten gehört, aber das war natürlich etwas ganz anderes als
dieses Fabelwesen tatsächlich vor sich zu sehen. Der Unsterbliche war über
zwei Meter groß, mit kurzen, kräftigen Hörnern. Er hatte den breiten,
kraftvollen Nacken eines Stiers und abfallende Schultern, doch die großen
Augen saßen nicht seitlich, sondern vorne wie bei einem Menschen. Seine Nase
war ebenfalls beinahe menschlich, aber breit und flach. Die Kiefer waren
riesig, die gebleckten Zähne übergroß und breit. Das meiste des übrigen Körpers
war menschlich, allerdings gestützt von einem größeren, kräftigeren Skelett, um
den massigen Schädel tragen zu können. Da der Unsterbliche nichts anhatte,
konnte sie sehen, dass er ganz offensichtlich männlich war. Als er sich zur
Seite drehte, erhaschte sie einen Blick auf einen Stierschwanz am Ende der
Wirbelsäule.
Dhana verhielt sich ganz ruhig und bemühte sich beim
Wassertreten kein Geräusch zu machen. In den Sagen hieß es, ein Taurus könne
schlecht sehen. Dafür sei allerdings sein Geruchssinn umso besser ausgeprägt.
Konnte er sie riechen?
Der Taurus schwankte hin und her, die Augen geschlossen
und die Nase hoch erhoben. Er schnüffelte geräuschvoll. Wenn er mich erwischt,
wird er mich verschleppen, dachte Dhana und ihre Kopfhaut begann zu prickeln.
Die Geschichten über das Schicksal von Frauen, die diesen ganz besonderen
Unsterblichen begegnet waren, kannte sie nur zu gut. Leise, ohne ihre Arme oder
Füße aus dem Wasser zu heben, glitt sie zum Ufer. Wenn sie schwamm, ließ sie
ihren Bogen immer bei den Kleidern zurück. Dann fiel ihr etwas ein und ihre
Zuversicht schwand. Sie hatte keine Waffe! Ihre Bogen waren in dem Reich der
Sterblichen zurückgeblieben.
Sie hörte ein markerschütterndes Brüllen und sah sich
um. Der Taurus hatte ihren Geruch aufgenommen, er begann in den Teich
hineinzuwaten. Die Notwendigkeit, leise zu sein, war nun nicht mehr gegeben.
Mit langen, geübten Zügen schwamm Dhana auf die Felsen zu. Sie hatte einen
Vorsprung vor dem Ding, den musste sie bis zum Haus ihrer Mutter noch ausbauen.
Zu sehr damit beschäftigt, den Taurus zu beobachten,
achtete sie nicht darauf, wohin sie trat, und stolperte in dem Schlamm am
Uferrand. Keuchend rappelte sie sich hoch und rannte das kurze Stück zu ihren
Kleidern und Handtüchern. Der Unsterbliche hatte ein Drittel des Weges quer
durch die Bucht zurückgelegt. Er war ein unbeholfener Schwimmer, er wälzte sich
dahin wie ein Stier, aber er war klug genug seine Arme dazu zu benutzen, sich
durch das Wasser zu ziehen.
Dhana drehte sich um und rannte drei
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