Dickner, Nicolas
Survivaltraining hatte ich mich im Keller des Bungalows verschanzt, ausgestattet mit meinen dreißig Abfallsäcken, einem soliden Vorrat an Schinkenbroten, mehreren Litern tiefgefrorenem Orangensaft und einem Radio auf Hintergrundlautstärke. Eine Woche hatte ich angesetzt, um fünf Jahrzehnte Existenz in Nichts aufzulösen, fünf Schränke voll mit Krimskrams, der von seinem eigenen Gewicht ganz plattgedrückt war.
Eine solche Aufräumaktion mag vielleicht wie eine trübselige Angelegenheit wirken oder wie ein Racheakt. Doch man darf mich nicht falsch verstehen: Ich war plötzlich allein auf der Welt, ohne Freunde und Verwandte, aber mit der dringlichen Notwendigkeit weiterzuleben. Ich musste Ballast abwerfen.
Mit der Kaltblütigkeit eines Archäologen machte ich mich an die Schränke und unterteilte die Erinnerungsstücke in mehr oder weniger logische Kategorien:
– eine Zigarrenkiste voller Muscheln;
– vier Bündel Zeitungsausschnitte über amerikanische Radaranlagen in Alaska;
– ein alter Fotoapparat Instamatic 104;
– über 300 Fotos, aufgenommen mit ebendieser Instamatic 104;
– mehrere Taschenbuchromane, sorgfältig mit Anmerkungen versehen;
– eine Handvoll billigen Schmucks;
– eine rosa Sonnenbrille à la Janis Joplin.
Und so weiter.
Ich machte eine verstörende Reise zurück in die Vergangenheit: Je tiefer ich mich in die Schränke hineingrub, umso weniger erkannte ich meine Mutter wieder. Diese staubigen Gegenstände gehörten zu einem früheren, weit entfernten Leben, berichteten von einer Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Menge dieser Gegenstände, ihre Textur, ihr Geruch schlichen sich in meinen Kopf und fraßen sich in meine eigenen Erinnerungen.
Meine Mutter bestand nunmehr nur noch aus einem Haufen unzusammenhängender Artefakte, die nach Mottenkugeln rochen.
Was dann geschah, verwunderte mich. Das, was nichts weiter als ein einfaches Ausmisten hätte sein sollen, verwandelte sich nach und nach in eine Initiationsprüfung. Ungeduldig wartete ich auf den Moment, in dem ich auf dem Grund der Schränke ankommen würde, aber ihr Inhalt schien unerschöpflich zu sein.
Und genau da stieß ich auf einen dicken Stapel Tagebücher – fünfzehn Hefte in einem biegsamen Einband, vollgeschrieben mit Prosa im Telegrammstil. Ich fasste wieder Mut. Vielleicht würden diese Tagebücher mir helfen können, die verschiedenen Teile des Puzzles zusammenzufügen?
Ich sortierte die Hefte nach ihrer zeitlichen Reihenfolge. Das erste begann am 12. Juni 1966.
Meine Mutter war mit neunzehn Jahren nach Vancouver abgehauen, ausgehend von dem Gedanken, dass ein wirklicher, dieses Namens würdiger Bruch mit der Familie an der Anzahl der zurückgelegten Kilometer messbar sei, und dass es in ihrem Fall Kontinente sein sollten.
Sie hatte an einem 25. Juni bei Tagesanbruch zusammen mit einem Hippie namens Dauphin das Weite gesucht. Die zwei Komplizen teilten sich die Benzinkosten, wechselten sich beim Fahren ab und pafften zusammen ausgiebig kleine Joints, die eng gerollt waren wie Zahnstocher. Wenn sie nicht am Lenkrad saß, schrieb meine Mutter in ihr Notizbuch. Ihre Schrift, anfangs noch ordentlich und sauber, begann sehr bald sich zu kräuseln und zu verlaufen, imitierte Wogen und Schwaden von THC.
Zu Beginn des zweiten Hefts erwachte sie allein auf der Water Street, kaum in der Lage ein Wort auf Englisch herauszubringen. Bewaffnet mit einem Schreibblock, kommunizierte sie mit Hilfe von Ideogrammen, wobei sie abwechselnd Gesten und Zeichnungen machte. In einem Park lernte sie eine Gruppe von Studenten der Bildenden Künste kennen, die gerade mikroskopisch kleine Mantarochen als Origami aus psychedelisch buntem Papier falteten. Sie boten ihr an, ihre übervölkerte Wohnung, ihr Wohnzimmer voller Kissen sowie ein Bett zu teilen, das schon von zwei anderen Frauen belegt war. Jede Nacht gegen zwei Uhr schlüpften sie alle drei unter die Decke, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und redeten über Buddhismus.
Meine Mutter schwor, nie wieder an die Ostküste zurückzukehren.
Wurden die ersten Wochen in Vancouver noch mit viel Liebe zum Detail erzählt, so fiel die Fortsetzung ihres Reiseberichts immer lückenhafter aus, die Ansprüche an ihr Nomadentum fielen offensichtlich mit jenen an die Berichterstattung. Sie blieb niemals länger als vier Monate an einem Ort, brach immer überstürzt auf, fuhr nach Victoria, Prince Rupert, San Francisco, Seattle, Juneau und an tausend andere Orte, um
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